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»Sehr großzügig von ihm! Aber die Sache läßt mir keine Ruhe. Soweit ich weiß, tut Odoaker nichts umsonst, und dieser kleine Junge kann für ihn doch nur Probleme schaffen.«

»Da irrst du dich aber«, sagte Antemius zu ihr. »Odoaker hat begriffen, wie Politik funktioniert. Würde er den Kaiser töten, dann würde er den Haß und die Verachtung der römischen Bevölkerung auf sich ziehen und großen Anstoß beim christlichen Klerus erregen, der ihn mit Herodes vergleichen würde, und im Osten würde deutlich werden, daß er den Purpur für sich reklamiert. Wenn er den Knaben aber verschont, gilt er als hochherziger und milder Mensch und weckt in Konstantinopel keinen gefährlichen Argwohn.«

»Aber glaubst du, daß in Konstantinopel sich jemand um Romulus Augustus schert? Zenon hat den früheren Kaiser des Westens, Julius Nepos, unterstützt und ihn während seines Exils, also nach seiner Absetzung durch Flavius Orestes, in seinen dalmatinischen Besitzungen beherbergt. Soweit ich informiert bin, machen sie sich da unten über den Knaben eher lustig. Sie nennen ihn Momylos statt Romulus und äffen so die Aussprache eines kleinen Kindes nach.«

»Aber Zenon ist abgesetzt worden, und inzwischen regiert Basiliskos, der sich zur Zeit in Spalato aufhält, nur eine eintägige Schiffsreise von hier entfernt. Ich habe eine kleine Delegation entsandt. Als Fischer getarnt, werden ihn meine Gesandten in spätestens zwei Tagen treffen, und wir werden bald die Antwort wissen.«

»Worum hast du ihn gebeten?«

»Dem Kaiser Zuflucht zu gewähren.«

»Und du glaubst, daß er zustimmen wird?«

»Ich habe ihm ein interessantes Angebot gemacht. Ich glaube schon.«

Über der weiten Fläche der stillen Lagune ging die Sonne unter, und vor der großen, rötlich glühenden Scheibe, die in das flache, in der Dunkelheit liegende Land versank, zeichnete sich eine lange Reihe berittener Krieger ab.

»Mledos Vorhut«, sagte Antemius. »Morgen werde ich mit Sicherheit wissen, ob sich einige Kameraden deines Kriegers retten konnten.«

»Warum machst du das?« wollte Livia wissen.

«Was?«

»Warum versuchst du, den Jungen zu retten? Nicht einmal du kannst irgendeinen Vorteil davon haben, denke ich.«

»Nicht ich persönlich. Aber ich bin der Familie Flavia Serenas immer treu ergeben gewesen. Die Treue ist eine Tugend, die typisch ist für die Alten: Man ist zu müde, um seine Einstellung und seine Ideale zu ändern ...« Er seufzte. »Ich habe ihrem Vater über Jahre gedient, und ich hätte alles Menschenmögliche getan, um ihr zu helfen, wenn ich die Zeit dazu gehabt hätte, wenn dieser Soldat sich nicht eingemischt hätte.«

»Vielleicht hatte auch er seine guten Gründe.«

»Ich will es hoffen, und es würde mich freuen, ihn kennenzulernen, wenn es dir gelingt, ihn zum Sprechen zu bringen.«

»Und wenn Basiliskos sich geneigt zeigt, dem Knaben Asyl zu gewähren, was wirst du dann tun?«

»Ich werde ihn befreien.«

Livia, die in diesem Augenblick einen Schritt vor ihm herging, drehte sich mit einem Ruck zu ihm um: »Wie bitte, was wirst du tun?«

»Ich habe es dir gesagt: Ich werde ihn befreien.«

Livia schüttelte den Kopf und sah ihn mit spöttischer Miene an. »Bist du nicht zu alt für derartige Abenteuer? Und wo wirst du die Leute für ein solches Unterfangen finden? Du hast gesagt, daß Odoaker sein Leben schonen wird. Das ist doch schon viel, glaubst du nicht? Es ist besser, die Dinge so zu lassen, wie sie sind.«

»Ich weiß, daß du mir helfen wirst«, fuhr Antemius fort, als habe sie nichts gesagt.

»Ich? Ich denke nicht daran! Ich habe bereits Kopf und Kragen riskiert, um diesen Unglücklichen zu retten. Es geht mir gegen den Strich, in einem hoffnungslosen Spiel das Schicksal herauszufordern.«

Antemius ergriff ihren Arm. »Auch du hast einen Traum, Livia Prisca, und ich kann dir helfen, daß er Wirklichkeit wird. Ich werde dir eine riesige Summe geben: Du wirst genug haben, um jeden zu bezahlen, den du brauchst, um das Unternehmen zu einem guten Ende zu bringen, und es wird dir davon noch so viel bleiben, daß du die Verwirklichung deiner Pläne in die Wege leiten kannst. Sicher, im Moment ist alles noch zu früh: Zuerst müssen wir Basiliskos' Antwort abwarten. Jetzt komm, wir kehren um. Man könnte meine Abwesenheit bemerken.«

Sie näherten sich Antemius' Boot. Sein Begleiter saß am Ufer und wartete auf ihn.

»Stephanus ist mein Sekretär und mein Leibwächter, mein Schatten, könnte ich sagen. Er ist in alles eingeweiht. Künftig könnte er derjenige sein, der die Verbindung aufrechterhält.«

»Wie du willst«, antwortete Livia, »aber ich glaube, daß du zu zuversichtlich bist: Basiliskos wird für Romulus' Leben keinen Pfifferling geben.«

Antemius erwiderte nur: »Das werden wir ja sehen.« Er stieg in das Boot, und Stephanus nahm die Ruder in die Hand. Livia blieb regungslos am Ufer stehen und sah ihnen nach, bis sie in der Dunkelheit der Abenddämmerung verschwanden.

VI

Die Kolonne bewegte sich über einen Damm, der die Lagune von Norden nach Süden durchzog; er führte auf dem Rücken einer ganzen Kette von Küstendünen entlang zum Festland. Hier nahm eine Straße aus gestampfter Erde ihren Anfang, die nach einigen Meilen in die gepflasterte Straße mündete, die Via Romea genannt wurde. Sie stellte seit vielen Jahren die bevorzugte Route jener Pilger dar, die aus ganz Europa nach Rom strömten, um dort an den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus zu beten. An der Spitze ritt Wulfila, im Sattel seines Schlachtrosses sitzend, mit Axt und Schwert bewaffnet, den Oberkörper bedeckt mit einem Panzerhemd, das an den Schultern und auf der Brust mit Metallplatten verstärkt war. Er ritt schweigend, scheinbar in seine Gedanken versunken, in Wirklichkeit aber entging seinem grimmigen Blick nichts von dem, was sich in den Feldern und am Straßenrand entlang regte. Rechts und links gaben ihm zwei Wachen Flankenschutz und suchten mit den Augen jeden Quadratmeter des weiten Geländes ab, das sich vor ihnen ausbreitete.

Zwei Trupps, die je aus einem Dutzend Krieger bestanden, durchstreiften zu beiden Seiten der Straße in einem Abstand von vielleicht einer halben Meile von der Hauptkolonne die Gegend, um jeden möglichen Überfall zu unterbinden. Hinten folgten etwa dreißig Reiter, dann der Wagen mit den Gefangenen. Den Abschluß der Kolonne bildete in einiger Entfernung die Nachhut, die aus ungefähr zwanzig Mann bestand.

In der Kutsche saß Ambrosinus Romulus gegenüber und machte ihn hin und wieder auf Besonderheiten in der Landschaft aufmerksam - auf Dörfer oder Hütten oder alte, verfallene Monumente. Er versuchte, die Unterhaltung zu beleben, aber mit wenig Erfolg: Der Junge antwortete einsilbig oder verschloß sich ganz. Also zog der Erzieher aus dem Quersack den Band der Aeneis hervor und begann zu lesen, wobei er sich bisweilen unterbrach, um einen Blick nach draußen zu werfen. Schließlich er nahm ein Notizbuch heraus, öffnete das Reisetintenfaß, tauchte die Feder hinein und fing an zu schreiben; manchmal schrieb er stundenlang und sagte kein einziges Wort. Als der Wagen durch eine bewohnte Ortschaft kam, befahl eine der Wachen, den Vorhang zuzuziehen: Niemand sollte sehen, wer drinnen saß.

Die Reise war mit großer Sorgfalt geplant worden, und als der Konvoi am ersten Abend an der fünfundzwanzigsten Meile der Straße anhielt, sah die alte, halbverfallene Poststation so aus, als sei sie teilweise instand gesetzt worden: Innen brannte ein Licht, und jemand bereitete ein Abendessen für die Gäste zu. Die Wachen kampierten abseits und kochten sich ihr Essen selbst: einen Hirsebrei, gewürzt mit Speck, dessen Geschmack mit Pökelfleisch aufgebessert war. Ambrosinus nahm Romulus gegenüber Platz, während der Wirt etwas Schweinefleisch mit geschmorten Linsen, altbackenes Brot und einen Krug mit Brunnenwasser brachte. »Das ist kein großartiges Abendessen«, bemerkte er, »aber du mußt essen. Bitte! Die Reise ist lang, und du bist sehr schwach. Du mußt unbedingt wieder zu Kräften kommen.«