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»Wozu?« fragte der Junge und blickte lustlos auf die Speise, die auf dem Teller dampfte.

»Weil das Leben ein Geschenk Gottes ist und wir es nicht wegwerfen dürfen.«

»Es ist ein Geschenk, um das ich nicht gebeten habe«, antwortete Romulus. »Und was mich erwartet, ist eine Gefangenschaft ohne Ende, oder etwa nicht?«

»Niemand kann in dieser unserer Welt Pläne ohne Ende schmieden. Es gibt ständig Veränderungen und Erschütterungen und Umwälzungen. Wer heute auf einem Thron sitzt, könnte morgen schon im Staub liegen, und derjenige, der weint, könnte bald schon eine neue Hoffnung aufkeimen sehen ... Wir müssen hoffen, Cäsar, wir dürfen nicht vor dem Unglück kapitulieren. Iß etwas, ich bitte dich, tu es für mich, der ich dir wohl will.«

Der Junge trank nur einen Schluck Wasser und sagte dann mit tonloser Stimme: »Nenn mich nicht Cäsar. Ich bin nichts mehr und bin vielleicht nie etwas gewesen.«

»Du irrst dich: Du bist der letzte aus einem großen Geschlecht von Männern, die die Welt beherrschten. Du bist vom Senat von Rom durch Zuruf gewählt worden, und ich war dabei. Hast du das vielleicht vergessen?«

»Wie lange ist das her?« unterbrach ihn der Junge. »Eine Woche? Ein Jahr? Ich erinnere mich nicht mehr daran. Es ist, als wäre es nie geschehen.«

Ambrosinus wollte nicht bei diesem Thema verweilen. »Da ist etwas, was ich dir noch nie gesagt habe ... etwas sehr Wichtiges.«

»Was denn?« fragte Romulus zerstreut.

»Wie ich dir zum ersten Mal begegnet bin. Du warst erst fünf Jahre alt und in Lebensgefahr, in einem Zelt, mitten in einem Wald im Apennin, in einer finsteren Winternacht, wenn ich mich richtig erinnere.«

Der Junge hob das Gesicht und zeigte widerwillig Interesse an dieser Begebenheit. Sein Erzieher besaß die Gabe eines großen Erzählers. Wenige Worte genügten ihm, um eine bestimmte Atmosphäre heraufzubeschwören, um den Schatten Gestalt zu verleihen und den Gespenstern der Vergangenheit Leben einzuhauchen. Romulus nahm ein Stück Brot und tunkte es unter Ambrosinus' wohlgefälligen Blicken in die geschmorten Linsen, und dieser begann nun ebenfalls zu essen.

»Und dann, was ist dann passiert?« fragte Romulus.

»Du hattest eine Vergiftung. Du hattest giftige Pilze zu dir genommen. Jemand hatte sie, irrtümlich oder vielleicht absichtlich, unter die guten gemischt ... Iß auch etwas Fleisch.«

»Und könnte dieses Essen nicht ebenfalls vergiftet sein?«

»Das glaube ich nicht. Wenn sie dich umbringen wollten, hätten sie es schon getan! Deshalb brauchst du nichts zu befürchten. Also, ich kam zufällig dort vorbei: Ich war müde, hungrig, von der langen Reise erschöpft und starr vor Kälte, als ich mitten im Wald das Licht in diesem Zelt sah und etwas in mir spürte. Ein seltsames Gefühl, wie eine plötzliche Offenbarung. Ich betrat das Zelt, ohne daß irgend jemand mich aufgehalten hätte, fast, als wäre ich ein unsichtbarer Geist. Vielleicht hat Gott selbst mir geholfen und mich vor den Augen der Wachen in Dunst gehüllt. Jedenfalls fand ich mich im Inneren des Zeltes wieder. Du lagst in deinem Bettchen. Du warst so klein ... und so blaß, und deine Lippen waren ganz blau. Deine Eltern waren verzweifelt. Es gelang mir, dich zu retten, indem ich dir ein Brechmittel verabreichte, und von da an gehörte ich zur Familie, bis zu diesem Augenblick.«

Romulus' Augen füllten sich bei der Erwähnung seiner Eltern mit Tränen; er bemühte sich aber, nicht zu weinen, und sagte: »Du hättest mich besser sterben lassen.« Ambrosinus versuchte, ihm etwas Fleisch in den Mund zu schieben, und Romulus schluckte es hinunter. »Warum hast du dich überhaupt in jener Gegend befunden?« fragte er.

»Warum? Das ist eine lange Geschichte, und wenn du willst, werde ich sie dir unterwegs erzählen. Aber jetzt beende dein Mahl, und dann gehen wir schlafen: Morgen müssen wir im Morgengrauen aufstehen und den ganzen Tag reisen.«

»Ambrosinus ...«

»Ja, mein Kind?«

»Warum wollen sie mich mein ganzes Leben lang gefangenhalten? Weil mein Vater mich zum Kaiser ernennen ließ? Ist das der Grund?«

»Ich glaube ja.«

»Hör zu«, sagte darauf Romulus, und sein Gesicht hellte sich plötzlich auf. »Vielleicht könnten wir eine Lösung finden: Ich bin bereit, auf alles zu verzichten, auf jeden Titel und auf alle Besitztümer, auf jedes Zeichen und jede Würde. Ich möchte nur ein Junge sein wie alle anderen auch. Gehen wir fort, ich und du, irgendwohin! Wir werden arbeiten, wir werden auf den Plätzen Geschichten erzählen, das kannst du so fabelhaft, Ambrosinus, wir werden uns irgendwie unseren Lebensunterhalt verdienen und niemandem zur Last fallen. Wir werden viele neue Gegenden sehen, wir werden übers Meer fahren bis ins Land der Pygmäen, bis hin zu den Bergen des Mondes. Was meinst du? Wie findest du das? Geh und sag es ihnen, bitte. Sag ihnen, daß ... daß ich auf alles verzichte, auch darauf ...« Er ließ den Kopf sinken, um nicht den Ausdruck der Scham auf seinem Gesicht zu verraten. »... auch darauf, meinen Vater zu rächen. Sag ihnen, daß ich alles vergessen will, alles. Und daß sie nie wieder etwas von mir hören werden. Sie sollen uns nur laufenlassen. Los, geh und sag ihnen das.«

Ambrosinus sah ihn liebevoll an. »Das ist nicht so einfach, Cäsar.«

»Du bist ein Heuchler: Du nennst mich Cäsar, aber meinen Befehlen gehorchst du nicht.«

»Ich würde es tun, wenn es möglich wäre, aber es ist nicht möglich. Diese Leute haben nicht die Befugnis, dir etwas zu gewähren. Nur Odoaker könnte das, aber Odoaker ist in Ravenna und hat bereits Befehle erteilt, die niemand auch nur im Traum umstoßen würde. Und wage nie wieder, mich einen Heuchler zu nennen! Ich bin dein Lehrer, und du schuldest mir Respekt. Und jetzt beende, bitte sehr, dein Abendessen und geh sofort zu Bett, ohne weitere Diskussionen.«

Romulus gehorchte, und Ambrosinus sah zu, wie er unwillig ein letztes Stückchen Brot kaute, ehe er im Nachbarzimmer verschwand, um sich niederzulegen. Er zog aus dem Quersack sein Notizbuch hervor und machte sich beim bereits schwachen Schein der Laterne wieder ans Schreiben. Von draußen drangen die Rufe und der Lärm der Barbaren herein, die anfingen, sich von der Müdigkeit der Reise zu erholen, und denen das Bier, das sie in großen Mengen zu sich nahmen, allmählich zu Kopf stieg. Ambrosinus spitzte die Ohren. Es war ein Glück, daß der Junge schlief oder zumindest ihre Sprache nicht verstand: Viele waren an dem Massaker in Orestes' Villa beteiligt gewesen und brüsteten sich jetzt mit den Plünderungen, den Vergewaltigungen, den Gewalttaten und den Beleidigungen jeglicher Art, die sie ihren Opfern zugefügt hatten. Andere gehörten zu Mledos Armee, derselben, die die Nova Invicta, Aurelius' Legion, vernichtet hatte. Diese letzteren erzählten Geschichten von Greueltaten, von Folterungen, von Verstümmelungen, die sie an noch lebenden Gefangenen vorgenommen hatten, eine ganze Serie von Schreckenstaten, von Grausamkeiten, die jede Vorstellung überstiegen: Mit Beklemmung dachte Ambrosinus daran, daß diese Leute nun für unbestimmte Zeit die Welt beherrschen würden. Während er in diese düsteren Gedanken versunken war, tauchte plötzlich Wulfila auf, dessen hünenhafte Gestalt das nächtliche Lager überragte. Der mächtige, herabwallende Bart, die struppige Mähne und die Zöpfe, die ihm auf die Brust fielen, machten ihn einer der nordischen Gottheiten ähnlich, die die Sueben oder die Chatten oder andere Germanen verehrten, und Ambrosinus blies schnell die Kerze in der Laterne aus, damit es so aussah, als würden im Inneren der Poststation alle schlafen. Dann ging er zur Wand und spitzte die Ohren, ohne dabei das halbgeöffnete Fenster aus den Augen zu lassen.