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Wulfila schrie etwas - wahrscheinlich war es ein Fluch, und alle verstummten. Dann fuhr er fort: »Ich habe euch befohlen, keinen Lärm zu machen und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Je weniger wir uns sehen lassen, um so besser ist es.«

»Aber, aber, Wulfila!« sagte einer von seinen Leuten. »Vor wem hast du denn Angst? Selbst wenn uns einer hört, was kann da schon passieren?« Und zu seinen Kameraden: »Ich fürchte mich vor niemandem, und ihr?«

»Schweig!« befahl Wulfila barsch. »Und ihr anderen auch, hört auf damit. Stellt alle hundert Schritte in einer Reihe Wachen auf! Wer aus irgendeinem Grund seinen Posten verläßt, wird auf der Stelle hingerichtet. Und die anderen gehen sofort schlafen. Morgen werden wir bis tief in die Nacht hinein marschieren und dann am Fuße des Apennin unser Lager aufschlagen.« Die Männer gehorchten: Einige liefen zu ihren Posten, während die anderen ihre Decken auf den Boden breiteten und es sich für die Nacht bequem machten. Ambrosinus ging zur Tür, setzte sich auf einen Schemel und geriet sofort ins Blickfeld eines der Wachtposten. Er würdigte ihn aber keines Blickes, sondern hob die Augen zum Himmel, um die Sternbilder zu betrachten. Er suchte den Polarstern, den Stern des Kleinen Bären, und er dachte an seine Kindheit, als sein Lehrer, ein weiser Mann in einem ehrwürdigen Alter, ihn lehrte, sich zu orientieren, in der Dunkelheit, auf offenem Feld wie auf den Wogen des Meeres den richtigen Weg zu erkennen, die Mondfinsternisse vorherzuberechnen und aus den ewigen Bahnen der Gestirne den Wechsel der Jahreszeiten auf der Erde abzulesen. Er dachte an den Jungen, und das Herz wurde ihm schwer vor Rührung. Er hatte ihn dazu bewegen können, etwas zu essen, hatte in seinem Wasser ein Pulver aufgelöst, das ihm zu einem ruhigen Schlaf verhelfen sollte:

Würde das genügen, um ihn wieder ins Leben zurückzuholen? Und wenn ihm das je gelingen sollte, welche Zukunft würde er ihm bieten können? Wie viele Tage, Monate und Jahre würden sie in dem Gefängnis verbringen, das ihnen zugewiesen worden war? Eine Gefangenschaft ohne Ende? Wie viele Male würden sie mit langsamen Schritten den engen Raum abmessen? Und wie lange würden sie die verhaßte Gegenwart ihrer Verfolger aushalten können? Plötzlich hallten in seinem Kopf wie ein Echo aus einer fernen Zeit die Verse eines Gedichtes wider:

Veniet adulescens a man infero cum spatha Pax et prosperitas cum illo, Aquila et draco herum volabunt Bntanniac in terra lata.

Er dachte an irgendein Zeichen, das ihn in diesem Augenblick unendlicher Traurigkeit und vollkommener Verlassenheit aus der Vergangenheit erreichte. Aber was für ein Zeichen konnte das sein? Und wer schickte es ihm?

Er rezitierte noch die Verse, langsam und leise, fast summend, und eine Weile fühlte sich sein Herz so leicht an wie ein Vogel, der sich gerade in die Lüfte schwingt. Dann kehrte er wieder in die baufällige Behausung zurück, die einst eine Station des cursus pubheus gewesen war, in der es hoch herging und von Gästen nur so wimmelte, die jetzt aber kalt und verlassen war. Er entzündete die Laterne am Kohlenbecken und betrat die Kammer, um sich neben Romulus niederzulegen. Er hob die Lampe hoch, um sein Gesicht zu beleuchten. Der Knabe schlief, und sein Atem ging langsam und regelmäßig, sein Leben, das eines Heranwachsenden, floß ruhig unter der gebräunten Haut dahin. Er war sehr schön, und in den stolzen, feingemeißelten Gesichtszügen erkannte er das Antlitz seiner Mutter wieder, das majestätische ovale Gesicht Flavia Serenas. Ambrosinus erinnerte sich an ihren Leichnam, der auf dem kalten Marmor unter dem Gewölbe der kaiserlichen Basilika aufgebahrt war, und schwor sich insgeheim, daß er für den Jungen eine große Zukunft erschaffen werde, um welchen Preis auch immer - und sollte es ihn das Leben kosten. Er hätte es gern geopfert aus Liebe zu jener Frau, die er zum ersten Mal am Kopfende des Bettes ihres kranken Kindes gesehen hatte, in jener kalten, fernen Herbstnacht in einem Wald des Apenningebirges. Er wagte nicht einmal, ihn zu streicheln. Ambrosinus löschte das Licht und streckte sich mit einem langen Seufzer auf seinem Lager aus. In einer sonderbaren und gänzlich unbewußten Heiterkeit beruhigte sich sein Herz wie die Oberfläche eines Sees in einer windstillen Nacht.

Aurelius drehte sich, immer noch im Halbschlaf versunken, auf seinem Lager um: Er war sich im Grunde seines Herzens nicht sicher, ob das Geräusch, das er gehört hatte, noch Teil seines Traums war oder ob es aus der Wirklichkeit stammte. Gewiß, er träumte noch, und er hatte die Augen noch nicht richtig geöffnet, als er schon vor sich her flüsterte: »Juba!« Das Wiehern wurde lauter und klarer erkennbar und war begleitet von einem Klatschen der Hufe im Wasser. Da rief er laut: »Juba!« Und das Wiehern, das ihm antwortete, war echt, und in ihm lag die ganze Freude eines Wesens, das einen verloren geglaubten Freund wiedergefunden hat.

»Juba, mein Schöner, du Schöner, komm, komm«, fuhr er fort zu rufen, während er sein Pferd, schlammbedeckt, grau und gespensterhaft im Morgennebel durch das Wasser auf sich zuwaten sah. Er ging ihm entgegen und umarmte es gerührt. »Wie hast du es geschafft, mich zu finden? Wie hast du das bloß geschafft? Laß dich ansehen. Schau nur, schau, wie du dich zugerichtet hast, wie schmutzig du bist, voller Krusten ... Du wirst Hunger haben, du Ärmster, du wirst ausgehungert sein ... Warte, warte.« Er ging zu der kleinen Schlucht, die Livia als Vorratskammer benutzte, und kehrte mit einem Eimerchen voller Dinkel zurück, in das das Tier gierig sein Maul steckte. Aurelius nahm einen Fetzen, tauchte ihn in das saubere Wasser und rieb sein Fell so lange ab, bis es glänzte. »Ich habe keinen Striegel, mein Freund, ich hab ihn nicht, und du mußt dich damit zufriedengeben. Aber das ist immerhin besser als nichts - oder?«

Als er seine Arbeit beendet hatte, trat er ein wenig zurück, um das Pferd zu betrachten: Es war prachtvoll mit seinen langen, schlanken Beinen, den zarten Sprunggelenken, der muskulösen Brust, dem stolzen Kopf, den bebenden Nüstern und seinem gebogenen Hals, den eine herrliche Mähne zierte. Er säuberte den Sattel und legte die Steigbügel zurecht, und als er das Pferd ansah, das seinen Hunger und seinen Durst gestillt hatte und nun vollständig aufgezäumt war, dachte er, daß es ein Zeichen sei, das ihm seine unbekannten Vorfahren aus dem Jenseits sandten. Er nahm den Gurt mit dem Schwert und hängte ihn sich über die Schulter, dann zog er sich die genagelten Schuhe an, nahm Juba am Zügel und wandte sich zu der Stelle, an der das Wasser am seichtesten war.

»Hast du auch nichts vergessen?« fragte eine Stimme hinter ihm. Und das Echo, das vom hohen Gewölbe widerhallte, antwortete: »Nichts vergessen?«

Zuerst überrascht und dann verlegen drehte Aurelius sich um: Livia stand aufrecht vor ihm, in der Hand eine Harpune; sie trug eine Art Lendenschurz aus gegerbtem Leder und zwei gekreuzte Stoffstreifen über der Brust und war soeben aus dem Wasser gestiegen, das noch von ihrem muskulösen Körper tropfte. Sie warf das Netz, das sie in der anderen Hand hielt, vor sich auf den Boden; es war gefüllt mit großen, zuckenden Meeräschen, und ein langer Aal wand sich wie eine Schlange um den Griff der Harpune.

Aurelius sagte: »Mein Pferd ist zurückgekommen.«

»Das sehe ich«, erwiderte Livia. »Und ich sehe auch, daß du hier nicht weiter stören willst. Du hättest wenigstens warten können, bis ich zurückkomme, und vielleicht danke schön sagen können.«

»Ich hatte dir meine Rüstung dagelassen«, sagte er und zeigte auf den Harnisch, den Schild und den Helm, die in einer Ecke des Nymphäums lagen. »Damit kannst du einiges anfangen ...«

Livia spuckte auf den Boden. »Von diesem Schrott finde ich so viel, wie ich will und wo ich will.«