»Habt ihr das auch gehört?« unterbrach ihn einer der Soldaten, der in diesem Augenblick am nächsten zur Palisade stand.
»Es kommt vom Feldlager her«, erwiderte Vatrenus und wandte seinen Blick hinunter zu dem halbverlassenen Lager, zu den mit Rauhreif überzogenen Zelten, um sie genau abzusuchen. »Die letzte Schicht der Nachtwache ist zu Ende: Es muß schon der Wachtposten vom Tagesdienst sein.«
»Nein!« sagte Aurelius. »Es kommt von draußen. Das ist Galopp.«
»Reiterei«, ergänzte Canidius, ein Legionär aus Arles.
»Barbaren«, sagte Antoninus schließlich. »Das gefällt mir nicht.«
In diesem Moment tauchten die Reiter aus dem Nebel auf, auf einer schmalen weißen Straße, die von den Hügeln zum Feldlager führte. Imponierend sahen sie aus, auf ihren gedrungenen, mit metallenem Harnisch bewehrten sarmatischen Streitrössern. Die Reiter trugen kegelförmige Helme, die mit Eisenbeschlägen und üppigem Schmuck versehen waren; lange Schwerter baumelten an ihren Seiten, und ihre langen blonden oder rötlichen Haare flatterten in der nebeligen Luft. Sie trugen schwarze Umhänge und Hosen aus derselben groben, dunklen Wolle. In dem Dunst und aus der Ferne wirkten sie wie Dämonen, die der Unterwelt entsprungen waren.
Aurehus spähte über die Palisade, um den Trupp zu beobachten, der immer näher kam. »Es sind herulische und skirische Hilfstruppen der kaiserlichen Armee«, sagte er, »Odoakers Leute, verflucht noch mal! Das verheißt mir nichts Gutes. Was machen die denn hier und um diese Zeit, ohne daß uns irgend jemand verständigt hat? Ich gehe und erstatte dem Kommandanten Meldung.«
Er stürzte die Treppe hinunter und lief durch das Lager zum Zelt des Befehlshabers. Manilius Claudianus, ein fast sechzigjähriger Veteran, der als junger Mann mit Aetius gegen Attila gekämpft hatte, war bereits auf den Beinen, und als Aurelius sein Zelt betrat, befestigte er gerade seine Schwertscheide am Gürtel.
»General, ein Trupp herulischer und skirischer Hilfskräfte nähert sich. Niemand hat uns über ihre Ankunft benachrichtigt, und die Sache macht mir Sorgen.«
»Sie macht auch mir Sorgen«, antwortete der Offizier. »Laß die Wache aufstellen und das Tor öffnen. Hören wir uns an, was sie wollen.«
Aurelius lief zur Palisade und bat Vatrenus, eine Abteilung Bogenschützen in Stellung zu bringen, dann lief er zum Wachtposten hinunter, ließ die verfügbaren Leute antreten und die Tür öffnen und ging zusammen mit dem Kommandanten hinaus. Unterdessen ließ Vatrenus die Truppe von Mann zu Mann wecken, also leise und ohne Posaunengeschmetter. Der Kommandant trat in voller Bewaffnung und mit dem Helm auf dem Kopf ins Freie, ein offenkundiger Beweis dafür, daß er glaubte, sich einem Kampf stellen zu müssen. Rechts und links von ihm hatte sich die Wache postiert, die von Cornelius Batiatus überragt wurde, einem äthiopischen Giganten, der schwarz war wie Holzkohle und ihm keinen Augenblick von der Seite wich. Im Arm trug Batiatus einen ovalen Schild, der vom Waffenschmied eigens nach Maß angefertigt worden war, damit er seinen ganzen riesigen Körper bedeckte. Von den Schultern hingen ihm links das römische Schwert und rechts eine zweischneidige Barbarenaxt.
Der Trupp der barbarischen Reiter war unterdessen nur noch wenige Schritte entfernt, und der Mann, der ihn anführte, hob als Signal zum Anhalten den Arm. Er hatte eine dichte Mähne roter Haare, die seitlich zu langen Zöpfen geflochten waren, er trug einen mit Fuchspelz verbrämten Umhang, der seine Schultern bedeckte, und sein Helm war mit einem Kranz kleiner silberner Totenschädel verziert. Es mußte sich um eine Persönlichkeit von gewissem Rang handeln. Ohne abzusteigen, wandte er sich an den Kommandanten Claudianus und sagte in einem ungeschliffenen, gurgelnden Latein: »Der edle Odoaker, der Führer der kaiserlichen Armee, befiehlt dir, das Kommando mir zu übertragen. Von heute an untersteht diese Abteilung mir!« Er warf ihm ein mit einem Lederband zugebundenes Pergament vor die Füße und fügte hinzu: »Hier ist dein Entlassungsbefehl mit dem Namen des Ortes, in dem du deinen Ruhestand verbringen wirst.«
Aurelius machte Anstalten, sich zu bücken, um ihn aufzuheben, aber der Kommandant stoppte ihn mit einer gebieterischen Geste. Claudianus kam aus einer alten aristokratischen Familie, die sich der direkten Abstammung von einem Helden aus republikanischer Zeit rühmen konnte, und die Gebärde des Barbaren kam für ihn einer sehr schwerwiegenden Beleidigung gleich. Ohne die Fassung zu verlieren, erwiderte er: »Ich weiß nicht, wer du bist, und es interessiert mich auch nicht. Befehle nehme ich nur vom edlen Flavius Orestes entgegen, dem obersten Befehlshaber der kaiserlichen Armee.«
Der Barbar wandte sich an seine Leute und rief: »Nehmt ihn fest!« Sie gehorchten, gaben ihren Pferden die Sporen und preschten mit gezückten Schwertern los. Offenkundig lautete der Befehl, alle zu töten. Die Wache reagierte, und gleichzeitig tauchte aus den Erdwällen des Lagers eine Einheit Bogenschützen mit abschußbereiten Pfeilen auf, die auf ein Zeichen des Vatrenus mit tödlicher Genauigkeit zielten. Die Reiter in der ersten Reihe wurden fast alle getroffen, aber das konnte die übrigen nicht aufhalten, die absprangen, um weniger Angriffsfläche zu bieten, und sich in großer Zahl auf die Wache des Claudianus stürzten. Batiatus warf sich seinerseits in das Getümmel, kämpfte wie ein Stier und teilte nach allen Seiten Hiebe von unglaublicher Wucht aus. Viele der Barbaren hatten noch nie einen Schwarzen gesehen und traten bei seinem Anblick erschrocken den Rückzug an. Der äthiopische Riese zerschlug Schwerter, durchbohrte Schilde, ließ Köpfe und Arme durch die Luft sausen, schwang die Streitaxt und brüllte: »Ich bin der Schwarze Mann! Ich hasse diese sommersprossigen Schweine!« Aber in der Hitze des Gefechts hatte er sich zu weit nach vorn geworfen, und so war Claudianus auf der linken Flanke ohne Deckung geblieben. Aurelius, der mit halbem Ohr das Nahen eines feindlichen Kriegers wahrgenommen hatte, befreite sich von einem Gegner, um dem Kommandanten Deckung zu geben, doch sein Schild kam nicht rechtzeitig, um das Ziel zu schützen, und so bohrte sich die Pike des Barbaren in die Schulter des Claudianus. Aurelius rief: »Der Kommandant ist verwundet! Der Kommandant ist verwundet!« Doch inzwischen waren die Tore des Lagers weit geöffnet worden, und die schwere Infanterie griff geschlossen und in voller Kriegsausrüstung an. Die Barbaren wurden zurückgeschlagen, und die wenigen Überlebenden, die auf ihre Pferde gesprungen waren, traten überstürzt die Flucht an. Kurz nachdem sie hinter den Hügeln verschwunden waren, meldeten sie sich bei ihrem Kommandanten, einem Skiren namens Mledo, zurück, der sie mit Geringschätzung und Verachtung musterte. Sie sahen erbärmlich aus: die Waffen verbeult, die Kleider zerrissen und über und über mit Blut und Schlamm bespritzt. Ihr Anführer sagte mit gesenktem Kopf: »Sie haben sich geweigert. Sie haben nein gesagt.«
Mledo fluchte, dann rief er seinen Burschen und erteilte ihm den Befehl, zum Rückzug zu blasen: Kurz darauf ertönte der Schall der Hörner durch die Nebeldecke, die die Landschaft noch immer einhüllte wie ein Leichentuch.
Der Kommandant Claudianus wurde behutsam auf die Pritsche des Feldlazaretts gelegt, und ein Chirurg bereitete sich darauf vor, die in seiner Schulter steckende Pike herauszuziehen. Der Schaft war bereits abgesägt worden, um den Schaden zu begrenzen, aber das Eisen steckte unmittelbar unter dem Schlüsselbein fest, und es bestand die Gefahr, daß die Lunge in Mitleidenschaft gezogen war. Neben ihm brachte ein Helfer auf den Kohlen ein Eisen zum Glühen und machte sich bereit, die Wunde zu kauterisieren.