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Romulus schien in die Betrachtung der dichten Eichen- und Eschenwälder versunken, die den Pfad säumten, oder in die der Hirten, die hier und da ein paar dürre Kühe auf der Weide hüteten. Doch er hatte zugehört, und seine Antwort fiel geharnischt aus: »Steuern zu erheben, die die Leute in den Ruin treiben, ist nicht nur ungerecht - es ist auch dumm. Ein ruinierter Mann zahlt überhaupt keine Steuern mehr, und wenn er zu den Briganten geht, zwingt er den Staat, noch mehr Geld auszugeben, um die Straßen sicherer zu machen.«

»Deine Beobachtung ist goldrichtig«, freute sich Ambrosinus, »aber vielleicht doch zu einfach, als daß man sie in die Praxis umsetzen könnte. Die Herrschenden sind gierig und die Bürokraten oft dumm, und diese beiden Übel zeitigen entsetzliche Folgen.«

»Aber trotzdem muß es für all das eine Erklärung geben. Warum muß ein Herrscher unbedingt gierig und ein Bürokrat unbedingt dumm sein? Du hast mir so oft gesagt, daß Augustus, Tiberius, Ha-drianus und Marcus Aurelius weise und ehrliche Fürsten waren, die korrupte Gouverneure bestraften. Doch vielleicht ist auch das nicht wahr: Vielleicht ist der Mensch immer schon dumm, gierig und schlecht gewesen.«

Just in diesem Moment ritt Wulfila vorbei und erreichte im Galopp bald einen in beherrschender Position gelegenen Hügel, um von dort aus die Umgebung zu erkunden und das Voranrücken seiner Soldaten zu überwachen. Die häßliche Wunde, die ihn entstellte, begann zu verheilen, aber sein Gesicht war immer noch geschwollen und gerötet, und aus den Stichen der Naht quoll eine eitrige Flüssigkeit. Vielleicht war er deswegen immer so schlecht gelaunt. Wegen jeder Kleinigkeit brauste er auf, und Ambrosinus hatte vermieden, seinen Argwohn zu erregen oder auf irgendeine Weise sein Mißtrauen zu wecken. Vielmehr klügelte er einen Plan aus, um sein Vertrauen, ja vielleicht sogar seine Dankbarkeit zu gewinnen.

»Es ist verständlich, daß du zur Zeit eine so negative Meinung von der Welt hast«, antwortete er Romulus. »Es wäre ein Wunder, wenn es anders wäre. Tatsächlich ist das Schicksal der Menschen und damit das der Völker und der Reiche von Ursachen und Ereignissen bestimmt, die sich der Kontrolle des Menschen entziehen. Das Reich hat sich jahrhundertelang gegen die Angriffe der Barbaren zur Wehr gesetzt: An der Front sind viele Kaiser von ihren Soldaten auf den Purpurthron gehoben worden, und an der Front sind sie, das Schwert in der Hand, gefallen, ohne Rom je gesehen oder über irgend etwas mit dem Senat gestritten zu haben. Die Attacken waren manchmal vielfältiger Art und kamen in Wellen, aus verschiedenen Richtungen und von verschiedenen Völkern gleichzeitig. Deshalb wurde zu einem sehr hohen Preis ein mächtiger Grenzwall errichtet, der sich über dreitausend Meilen, von den Hügeln Britanniens bis zu den Wüsten Syriens, erstreckte. Hunderttausende Soldaten ließen sich anwerben: Bis zu fünfunddreißig Legionen standen unter Waffen, fast eine halbe Million Männer! Keine Ausgabe, kein Opfer schien den Cäsaren zu groß, um das Reich und mit ihm die Zivilisation zu retten. Aber dabei bemerkten sie nicht, daß die gewaltigen Belastungen unerträglich wurden und ihre Steuern die Bauern, Viehzüchter und Handwerker in die Armut trieben, Handel und Verkehr zerstörten und sogar die Geburtenrate schrumpfen ließen. Warum Kinder auf die Welt setzen, fragten sich die Leute, und ihnen nur Elend und Entbehrungen zumuten? Dann war es zu einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr möglich, die Invasoren zurückzudrängen, und deshalb kam man auf die Idee, die Barbaren innerhalb unserer Grenzen anzusiedeln und sie in die Armee aufzunehmen, um sie gegen andere Barbaren kämpfen zu lassen ... Das war ein verhängnisvoller Fehler, aber vielleicht gab es keine Alternative: Not und Bedrückung hatten in den Bürgern die Vaterlandsliebe erstickt, und so mußte man sich an die Söldner wenden, die jetzt unsere Herren sind.«

Ambrosinus schwieg und wurde sich bewußt, daß er seinem Schüler nicht nur eine Geschichtsstunde erteilte, sondern an Ereignisse erinnerte, die noch ziemlich frisch und real waren, Begebenheiten, die ihn direkt und auf recht schmerzliche Weise betroffen hatten. Dieses traurige Kind, das ihm gegenübersaß, war immerhin der letzte Kaiser des Westens. Nicht aus freien Stücken ein Protagonist dieser ungeheuren Tragödie und kein Zuschauer.

»Und das ist es, was du - wie ich sehe - bisweilen aufschreibst? Das ist Geschichte?« fragte ihn Romulus.

»Ich habe keinen Ehrgeiz, die Geschichte aufzuschreiben: Das können andere besser als ich, und zwar in einer schöneren und eleganteren Sprache. Ich will nur eine Erinnerung an meine persönlichen Erlebnisse und an jene Ereignisse hinterlassen, deren unmittelbarer Zeuge ich gewesen bin.«

»Du wirst noch genug Zeit haben, um das aufzuschreiben! Jahre um Jahre der Gefangenschaft. Warum wolltest du mit mir kommen? Du hättest in Ravenna bleiben oder in deine Heimat, nach Britannien, zurückkehren können. Stimmt es, daß dort die Nächte niemals enden?«

»Die Antwort auf die erste Frage kennst du bereits. Du weißt, daß ich dich sehr gern habe und deiner Familie treu ergeben bin. Was die zweite Frage anbelangt, so ist das nicht ganz richtig ...«, leitete Ambrosinus seine Antwort ein, aber Romulus fiel ihm ins Wort:

»Das ist es, was ich für mich haben möchte: eine Nacht, die nicht endet, einen Schlaf ohne Träume.«

Der Junge sprach diese Worte mit so ausdrucksloser Miene, daß Ambrosinus nicht wußte, was er darauf sagen sollte.

So reisten sie den ganzen Tag weiter. Der Lehrer bemühte sich, jeden Stimmungswechsel seines Schülers vorherzuahnen, und versuchte zugleich, nicht den Überblick über das zu verlieren, was rundum geschah. Sie hielten erst bei Sonnenuntergang an. Die Tage waren inzwischen schon sehr kurz und die Zahl der Stunden, in denen sie vorankamen, begrenzt. Die barbarischen Soldaten entzündeten ein Feuer, und ein paar ritten über die Felder und kehrten nach einiger Zeit mit etlichen abgestochenen Schafen zurück, die von ihren Sätteln herabhingen, oder mit Hühnern, die bündelweise an den Beinen zusammengebunden waren. Sie hatten wohl das eine oder andere vereinzelt in der Landschaft stehende Gehöft geplündert. Rasch wurde diese leichte Beute gerupft, ausgenommen und auf die Kohlenbecken gelegt, um sie zu braten. Wulfila setzte sich von den anderen getrennt auf einen Felsblock und wartete auf seine Ration. Seine Miene war finster, während seine entstellten Züge vom Widerschein der Flammen auf dramatische Art und Weise erhellt wurden. Ambrosinus, der ihn keinen Moment aus den Augen ließ, trat langsam und, um keinen Argwohn zu erregen, im vollen Schein des Feuers an ihn heran, und als er so nahe bei Wulfila war, daß dieser ihn hören konnte, sagte er: »Ich bin Arzt und kenne mich mit Arzneien aus. Ich kann etwas für diese Wunde tun. Sie muß dir große Schmerzen bereiten.«

Wulfila machte eine Geste wie jemand, der ein lästiges Insekt vertreiben möchte, aber Ambrosinus rührte sich nicht von der Stelle und fuhr unbeirrt fort: »Ich weiß, was du denkst: Du bist schon viele Male verwundet worden, und die Wunde ist früher oder später vernarbt und der Schmerz vergangen. Aber in diesem Fall ist es anders: Das Gesicht ist derjenige Teil des Körpers, der am schwierigsten zu heilen ist, weil auf dem Gesicht die Seele mehr als auf jedem anderen Körperteil zutage tritt. Es ist viel empfindlicher und verletzlicher als der übrige Körper. Deine Wunde ist entzündet, und wenn die Infektion sich weiter ausbreitet, wird sie dir das Gesicht zerfressen und es in eine unkenntliche Maske verwandeln.«

Er wandte sich zur Kutsche um, aber Wulfilas Stimme rief ihn zurück: »Warte!« Da holte Ambrosinus seinen Sack, ließ sich von den Soldaten Wein geben, wusch die Wunde mehrmals damit aus, drückte den Eiter heraus, bis er sauberes Blut kommen sah; dann entfernte er die Fäden der Naht, und nachdem er einen Aufguß aus Malve und Weizenkleie auf die Wunde aufgetragen hatte, verband er sie.