Livia briet die Forellen, so gut sie konnte, und legte immer wieder Kiefernzweige nach, die mit einer schönen, knisternden Flamme verbrannten, aber kaum Rauch erzeugten. Als die Mahlzeit fertig war, nahm sich Aurelius den kleineren Fisch, aber Livia hielt ihm den größeren hin. »Du mußt essen«, sagte sie, »du bist noch schwach, und wenn es einmal soweit ist, daß wir handgreiflich werden müssen, dann will ich einen Löwen und kein Schaf neben mir wissen. Und jetzt geh schlafen. Die erste Nachtwache übernehme ich.«
Aurelius antwortete nicht, ging zum Rand der Lichtung und lehnte sich gegen den Stamm einer uralten Eiche. Livia sah, wie er so, regungslos und mit starren, weit aufgerissenen Augen, der Nacht entgegensah, die mit ihren Schatten und ihren Gespenstern vom Berg herunterstieg, und wäre gern zu ihm gegangen, wenn er sie nur darum gebeten hätte.
Wulfila befahl, das Nachtlager in der Nähe einer Brücke aufzuschlagen, die über einen Nebenfluß des Tibers führte. Seine Leute begannen, die Schafe und Hammel zu braten, die sie bei einem Hirten beschlagnahmt hatten, der ihnen ein paar Stunden zuvor leichtsinnigerweise in die Quere gekommen war. Ambrosinus trat mit besorgter Miene an ihn heran. »Der Kaiser verabscheut Schaffleisch«, sagte er.
Der Barbar brach in Gelächter aus. »Der Kaiser verabscheut Schaffleisch? Ach, wie schade, wie entsetzlich! Unglücklicherweise hat sich der Chef der kaiserlichen Küche nicht aus Ravenna fortbequemen wollen, und die Auswahl an Speisen ist jetzt begrenzt. Entweder er ißt Schaffleisch, oder er geht eben hungrig ins Bett!«
Ambrosinus trat noch näher. »Im Wald habe ich Kastanien gesehen: Wenn du mir erlaubst, ein paar einzusammeln, kann ich ihm eine sehr wohlschmeckende und nahrhafte Süßspeise zubereiten.«
Wulfila schüttelte den Kopf. »Du rührst dich nicht von der Stelle!«
»Wohin soll ich schon gehen? Du weißt ganz genau, daß ich den Jungen unter gar keinen Umständen allein lassen werde. Laß mich gehen: Ich komme gleich zurück und gebe dir auch davon. Ich versichere dir, daß du noch nie etwas so Gutes gegessen hast.«
Wulfila ließ ihn gehen, und Ambrosinus zündete sich eine Laterne an und ging in den Wald. Der Boden unter den großen knorrigen Baumstämmen war mit stachelbewehrten Schalen bedeckt, von denen viele bereits aufgesprungen und halb geöffnet waren und den Blick auf die Früchte mit ihrer schönen rotbraunen, an gegerbtes Leder erinnernden Farbe freigaben. Er las ein paar davon auf und dachte, daß diese Gegend völlig unbewohnt sein müsse, wenn so kostbare Früchte den Bären und Wildschweinen überlassen wurden. Er kehrte mit der erloschenen Laterne ins Lager zurück und schlich zu der Stelle, wo sich Wulfila offensichtlich gerade mit seinen Stellvertretern beriet.
»Wann soll ich aufbrechen?« fragte in diesem Augenblick einer von ihnen.
»Schon morgen, sobald wir die Ebene erreicht haben. Du nimmst ein halbes Dutzend Männer mit, und ihr reitet uns bis Neapel voraus. Dort nehmt ihr Kontakt auf mit einem Mann namens Andreas von Nola, der euch in der Unterkunft der kaiserlichen Garde erwartet, und sagt ihm, daß er die Überfahrt nach Capri vorbereiten soll. Er muß die gesamte Eskorte ins Kalkül ziehen und darüber hinaus an den Jungen, seinen Erzieher und das Dienstpersonal für uns und für sie denken. Du wirst ihm sagen, daß ich am endgültigen Zielort alles fertig vorfinden wilclass="underline" Unterkünfte für die Männer, Essen, Wein, Kleider, Decken. Alles. Sie könnten uns mit Sklaven dienen, aber sorge dafür, daß sie keine aus Miseno nehmen. Dort sind nämlich einige von denen, die Mledo in Dertona gefangengenommen hat:
Daß die mir bloß nicht unter die Augen kommen! Hast du verstanden? Wenn etwas schiefgeht, wird er persönlich zur Verantwortung gezogen. Und mach ihm klar, daß ich mit unfähigen Leuten nicht gerade zimperlich umgehe.«
Ambrosinus entfernte sich mit leichten Schritten, denn er glaubte, schon genug gehört zu haben, und erschien wieder am gegenüberliegenden Ende des Lagers, wo die Männer der Eskorte über dem Feuer die Spieße mit den Hammelvierteln drehten. Er setzte sich in eine Ecke und röstete seine Kastanien, dann zerstampfte er sie in einem Mörser, fügte von den Vorräten des Konvois etwas aufgekochten Most hinzu und bereitete einen Fladen zu, den er über dem Feuer hin und her schwenkte, damit er knusprig wurde. Als er ihn mit berechtigtem Stolz seinem Herrn servierte, sah Romulus ihn erstaunt an. »Meine Lieblingsspeise. Wie hast du das nur geschafft?«
»Wulfila beginnt, mir ein Minimum an Freiheit zuzugestehen: Er weiß genau, daß er mich nicht allzu schlecht behandeln darf, wenn ihm sein Gesicht lieb ist. Ich bin in den Wald gegangen und habe Kastanien gesammelt. Das war alles.«
»Danke«, erwiderte Romulus. »Es erinnert mich an die Festtage zu Hause, wenn unsere Köche sie auf der Schieferplatte im Garten zubereiteten. Es kommt mir so vor, als würde ich den Most noch riechen, wie er auf dem Feuer kocht. Es gibt keinen köstlicheren und stärkeren Duft als den von kochendem Most.«
»Iß«, sagte Ambrosinus zu ihm, »laß es nicht kalt werden.«
Romulus biß in den Fladen, und sein Erzieher fuhr fort: »Ich habe Neuigkeiten. Ich weiß, wohin sie dich bringen. Ich habe gehört, wie Wulfila sich mit seinen führenden Leuten beriet, während ich aus dem Wald kam. Unser Ziel ist Capri.«
»Capri? Aber das ist doch eine Insel.«
»Ja. Es ist eine Insel, aber nicht besonders weit von der Küste entfernt. Und manche finden sie ganz angenehm, vor allem im Sommer, wenn das Wetter gut ist. Kaiser Tiberius hat dort prächtige Villen gebaut und in den letzten Jahren seiner Herrschaft in der schönsten von ihnen gewohnt, in der Villa Jovis. Nach seinem Tod ...«
»Es wird trotzdem ein Gefängnis sein«, fiel Romulus ihm ins Wort, »wo ich den Rest meiner Tage verbringen werde ohne irgendeine andere Gesellschaft als die der widerwärtigsten Feinde. Ich werde nicht reisen können, keine anderen Menschen kennenlernen, keine Familie haben ...«
»Akzeptieren wir das, was das Leben uns Tag für Tag bringt, mein Sohn. Die Zukunft ist in Gottes Geist und Hand. Gib nicht auf, verzage nicht, resigniere nicht. Erinnere dich an das Beispiel der Großen der Vergangenheit, erinnere dich an die Lehren und die Empfehlungen der großen Weisen - von Sokrates, Cato und Seneca. Wissen ist nichts, wenn es uns nicht ermöglicht, das Leben zu meistern. Hör zu, neulich habe ich eine Art Vorwarnung erhalten: Wie durch ein Wunder ist mir eine alte Prophezeiung aus meiner Heimat in den Sinn gekommen, und seither haben sich meine Gefühle gewandelt. Ich spüre, daß wir nicht allein sind und daß es bald weitere Zeichen geben wird. Glaube mir, ich fühle es.«
Romulus lächelte, eher mitleidig als erleichtert. »Du träumst«, sagte er zu ihm, »aber du kannst gute Fladen zubereiten, zumindest dieser hier ist von unbestreitbarer Qualität.« Er aß weiter, und Ambrosinus sah ihm mit großer Freude zu und vergaß darüber, daß er selbst bis zu diesem Augenblick kaum etwas angerührt hatte. Aber er zog es vor, das, was übriggeblieben war, zu Wulfila zu tragen, um sein Wort zu halten und, soweit dies möglich war, sein Wohlwollen zu gewinnen.
Am folgenden Tag wachten sie beim Morgengrauen auf und sahen zu, wie der kleine Voraustrupp nach Süden aufbrach. Dann setzte sich der Konvoi wieder in Marsch und machte erst gegen Mittag für eine kurze Rast halt. Das Klima wurde allmählich immer milder, je weiter sie nach Süden kamen. Die Wolken waren groß und weiß: Sie zogen, vom Westwind getrieben, über den Himmel, und türmten sich manchmal zu großen schwarzen Gebirgen auf, die plötzliche und heftige Regengüsse auf die Erde schickten. Dann kam die Sonne wieder heraus und strahlte über die naßglänzenden Felder. Die Eichen und Eschen hatten inzwischen das Terrain den Kiefern und Myrten überlassen, und die Apfelbäume waren den Oliven und Weinstöcken gewichen.