»Rom liegt bereits hinter uns«, sagte Ambrosinus. »Wir nähern uns dem Ziel.«
»Rom ...«, murmelte Romulus und dachte daran, wie er, in die kaiserlichen Gewänder gehüllt und von seinen Eltern begleitet, in die Kurie des Senats eingezogen war. Es kam ihm vor, als seien seitdem hundert Jahre vergangen und nicht erst wenige Monate, und jetzt schickte er sich an, seine Jugend und sein Jünglingsalter zu erleben, die schönste Zeit im Leben eines Menschen - mit einem Herzen voller Trauer und düsterer Vorahnungen.
IX
Wulfila bemerkte die Wasserverkäuferin, als sie noch ein Stück weit entfernt war. Sie stand am rechten Rand der Straße, auf dem Erdaushub: Über der Schulter hielt sie einen Schlauch und in der Hand eine Holzschüssel und sah aus wie so viele andere Unglückliche und Bettler, denen man unterwegs begegnete. Aber seit einiger Zeit brannte die Sonne immer heißer herunter, und die mittägliche Stunde sowie die Tatsache, daß es beiderseits der Straße schon lange keine Quellen gegeben hatte, hatten sowohl die Menschen als auch die Pferde durstig gemacht.
»He, du da, komm her!« sagte er zu ihr in seiner Sprache, als sie etwas näher gekommen waren. »Ich habe Durst!«
Das Mädchen verstand aus seinen Gesten und aus seiner Miene, daß er trinken wollte, und reichte ihm die gefüllte Schüssel. Obwohl sie in einen abgetragenen, armseligen Umhang gehüllt war, trat ihre Schönheit doch zutage und riß die barbarischen Krieger zu schlüpfrigen Bemerkungen hin.
»He, laß dich ein bißchen genauer anschauen!« rief ihr einer zu und versuchte, ihr den Umhang von den Schultern zu reißen, aber sie wich ihm mit einer schnellen, geschickten Bewegung des Oberkörpers aus. Dennoch versuchte sie zu lächeln und streckte die Hand aus, um ein Almosen zu erhalten als Entschädigung für das frische Wasser, das sie in die Schüssel goß.
»Seit wann muß man denn hier für das Wasser bezahlen?« schrie ein anderer Soldat. »Wenn ich eine Frau bezahle, muß ich schon etwas mehr bekommen!« Und er ging auf sie zu, packte sie und zog sie an sich. Er fühlte die schlanke Taille und die Krümmung der Schenkel, die unter der Haut gespannten Muskeln, und während er sie mit überraschtem Ausdruck ansah, sagte er: »So ein pralles Fleisch! Du bist keine, die wenig und schlecht ißt.« Doch in diesem Augenblick hörte man eine Stimme sagen: »Ich habe Durst.«
Das Mädchen begriff, daß sie aus der nur wenige Schritte entfernten Kutsche kam, trat näher und schob den Vorhang, der das Fenster bedeckte, etwas zur Seite. Sie sah sich einem Jungen von ungefähr zwölf, dreizehn Jahren gegenüber, mit hellbraunen Haaren, großen, dunklen Augen, in einer weißen Tunika mit langen Ärmeln, die am Saum mit Silber bestickt waren. Ihm gegenüber saß ein Mann von etwa sechzig Jahren mit grauem Bart und kahlem Oberkopf, der ein schlichtes Gewand aus grauer Wolle trug und ein kleines silbernes Schmuckstück um den Hals hängen hatte.
Sofort zog Wulfila den Vorhang wieder zu, stieß das Mädchen grob zur Seite und rief: »Weg von hier!« Doch der Mann, der im Wagen saß, schob erneut den Vorhang beiseite und sagte mit fester Stimme: »Der Junge hat Durst.« In diesem Moment begegneten seine Augen denen des Mädchens, und er begriff sofort, daß sie nicht das war, was sie zu sein schien: Er versuchte, ihr etwas begreiflich zu machen oder sie auf etwas vorzubereiten, und drückte Romulus' Arm, als wolle er ihm mitteilen, daß etwas Unerwartetes bevorstehe. Die Wasserverkäuferin trat näher heran, und als sie gerade Wulfilas Blicken verborgen war, reichte sie dem Jüngling die mit Wasser gefüllte Holzschüssel und dem Mann einen Metallbecher, und während ersterer trank, flüsterte sie ihm auf griechisch zu: »Chaire, Kai-sar« - Sei gegrüßt, Kaiser. Dem Jungen gelang es, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen, während sein Begleiter in derselben Sprache antwortete: »Tis eis«-Wer bist du?
»Eine Freundin«, erwiderte das Mädchen. »Ich heiße Livia. Wo bringt man euch hin?«
Doch im selben Augenblick trat Wulfila erneut dazwischen, zog sie weg und beendete so das Gespräch.
In der Kutsche "wandte sich Romulus an seinen Erzieher, weil er nicht wußte, was er von dieser seltsamen Begegnung halten sollte: »Wer kann das gewesen sein, Ambrosinus? Woher wußte sie, wer ich bin?«
Doch die Aufmerksamkeit des Mannes wurde jetzt auf den Becher gelenkt, den er in der Hand hielt. Er drehte ihn um und entdeckte unten ein Siegel in der Gestalt eines Adlers und die Aufschrift
LEG NOVA INV.
»Legio Nova Invicta«, las er leise. »Weißt du, was das bedeutet, Cäsar? Daß dieser Soldat es noch einmal versucht und dieses Mal nicht allein ist. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder mir Sorgen machen soll, doch mein Herz sagt mir, daß es sich um ein günstiges Zeichen handelt, um eine glückliche Begebenheit. Wir sind nicht unserem Schicksal überlassen worden, und ich habe das Gefühl, daß die Vorwarnung, die ich vor einigen Tagen erhielt, sich bestätigt hat ...«
Unterdessen schob Wulfila Livia an den Rand der Straße, aber diese wandte sich mit flehendem Blick an ihn: »Aber, mein Herr, meine Schüssel! Ich brauche sie doch!«
»In Ordnung«, sagte Wulfila, »komm schon mit!« Er begleitete sie zurück zum Wagen, und nachdem sie ihre Schüssel zurückerhalten hatte, führte er sie wieder zum Straßenrand, ohne sie eine Sekunde allein zu lassen. Livia blieb nur ein Moment, um noch einen Blick mit den beiden Gefangenen auszutauschen, konnte aber kein Wort sagen. Sie sah der Kutsche so lange nach, bis sie hinter einer kleinen Anhöhe verschwand, und rührte sich erst von der Stelle, als das Hufgetrappel und das Geräusch der Räder endgültig verklungen waren. Dann drehte sie sich um und erblickte einen Reiter, der regungslos auf dem Gipfel eines Hügels verharrte und sie beobachtete: Aurelius. Sie machte sich auf den Weg und ging durch das Unterholz auf einem gewundenen Pfad, der sie nach einiger Zeit an den Fuß des Hügels führte. Aurelius kam ihr entgegen, ein zweites Pferd an den Zügeln haltend. Livia sprang auf.
»Und?« fragte er. »Ich habe wie auf glühendheißen Kohlen gesessen.«
»Ich habe es nicht geschafft. Er war gerade im Begriff, es mir zu sagen, als Wulfila mich weggezogen hat. Wenn ich versucht hätte, noch etwas zu fragen, hätte er Verdacht geschöpft und mich mit Sicherheit festgehalten. Doch wissen sie jetzt wenigstens, daß wir ihnen folgen. Jedenfalls glaube ich das. Der Mann, der mit dem Kaiser reist, hat einen scharfen, durchdringenden Blick; er ist bestimmt ein Mann von großer Intelligenz.«
»Er ist ein verdammter Quertreiber«, antwortete Aurelius, »aber er ist der Erzieher des Jungen, und wir müssen ihn auf alle Fälle mit einbeziehen, egal, welchen Plan wir umsetzen. Und er? Sag mir, ist es dir gelungen, ihn zu sehen?«
»Den Kaiser? Ja, natürlich.«
»Wie geht es ihm?« fragte Aurelius, ohne die Beunruhigung in seiner Stimme zu verhehlen.
»Gut. Ich würde sagen, daß es ihm gutgeht. Aber in seinen Augen liegt eine unendliche Traurigkeit. Der Verlust seiner Eltern muß ihn schrecklich bedrücken.«
Aurelius überlegte ein paar Sekunden lang schweigend und sagte dann: »Jetzt warten wir ab, ob wir den Kontakt mit ihm aufrechterhalten können. Die Eskorte scheint mir nicht besonders wachsam zu sein, vielleicht sind sie davon überzeugt, daß mittlerweile kein Mensch mehr an die Gefangenen denkt.«
»Die anderen vielleicht. Wulfila nicht: Er ist mißtrauisch, argwöhnisch, schleicht dauernd herum und blickt mit Luchsaugen um sich. Er hat die Lage immer unter Kontrolle, ihm entgeht gar nichts, das versichere ich dir.«
»Hast du ihm ins Gesicht geschaut?«
»So, wie ich dich jetzt sehe! Du hast ihm zweifellos eine schöne Visitenkarte hinterlassen, und wenn er sich auch nur ein einziges Mal im Spiegel betrachtet hat, dann möchte ich jedenfalls nicht in deiner Haut stecken, wenn du ihm einmal in die Hände fällst.«