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»Dieses Problem stellt sich nicht«, erwiderte Aurelius. »Ich werde ihm niemals in die Hände fallen ... nicht lebend.«

Sie ritten den ganzen Nachmittag weiter bis zum Sonnenuntergang, als sie sahen, daß Wulfilas Kolonne in der Nähe von Minturno abbog. Die alte Via Appia war nicht mehr benutzbar. Die Sümpfe, die durch die Entwässerungskanäle, die Kaiser Claudius hatte graben lassen, zumindest teilweise trockengelegt waren, hatten aufgrund der mangelhaften Wartung große Teile des Territoriums zurückerobert, und so war die Straße über längere Strecken in den Schlamm abgesackt. Die Oberfläche der stehenden Gewässer erglühte, während die Scheibe der Sonne nach und nach darin versank; dann nahm sie ganz allmählich bleierne Farbtöne an und spiegelte den immer dunkler werdenden Himmel wider. Über dem Meer ballten sich große schwarze Wolken zusammen, die langsam zur Mitte des Himmels aufstiegen, und in der Ferne grollte ein Donner. Vielleicht würde vom Westen her ein Gewitter aufziehen.

Die von den Ausdünstungen der Sümpfe und der Feuchtigkeit beschwerte Atmosphäre wurde zu dieser Zeit des Tages immer drückender: Sowohl Aurelius als auch Livia waren schweißgebadet, aber sie zogen weiter, um den Kontakt mit der kaiserlichen Karawane nicht zu verlieren, die rasch voranrückte, um vor Einbruch der Nacht noch eine möglichst weite Strecke zurückzulegen. Einmal hielt Aurelius an, um sich aus der Flasche etwas zu trinken einzuschenken, und auch Livia streckte ihm ihre Schüssel hin, weil sie ihre gesamten Trinkwasserreserven unter Wulfilas Männern verteilt hatte. Dann führte sie sie an die Lippen und trank in langen Zügen. Plötzlich, als nach und nach der Boden der Schüssel zum Vorschein kam, bemerkte Livia etwas, und ihre Miene hellte sich auf.

»Capri«, sagte sie. »Sie reisen nach Capri.«

»Wie bitte?« fragte Aurelius verdutzt.

»Sie gehen nach Capri. Da bitte, schau selbst. Ich hatte dir doch gesagt, daß dieser Mann intelligent ist.« Sie drehte die Schüssel zu Aurelius und zeigte ihm die Buchstaben, die mit der Spitze eines Griffels in den Boden eingeritzt waren: CAPREAE.

»Capri«, wiederholte Aurelius. »Das ist eine Insel im Golf von Neapel, rauh und felsig, unwirtlich und wild, bewohnt nur von Ziegen, deshalb heißt sie ja auch Ziegeninsel.«

»Bist du schon einmal dort gewesen?«

»Nein, aber ich habe ein paar meiner Freunde davon erzählen hören, die aus dieser Gegend stammen.«

»Ich glaube nicht, daß es so ist, wie du sagst«, erwiderte Livia. »Wenn Kaiser Tiberius sie zu seiner Residenz erkoren hat, dann wird sie wohl nicht so übel sein. Das Klima ist bestimmt gut und mild, und ich kann mir vorstellen, daß sich der Duft des Meeres mit dem der Kiefern und Ginsterbüsche vermischt.«

»Es wird wohl so sein, wie du sagst«, antwortete Aurelius, »aber trotzdem ist es ein Gefängnis. Komm, wir suchen weiter oben, in Richtung der Hügel, einen geschützten Platz für die Nacht, sonst fressen uns noch die Mücken bei lebendigem Leib auf.«

Sie fanden Unterschlupf in einer ärmlichen Hütte aus Schilfrohr und Stroh, die die Bauern errichtet hatten, um ihre Ernten zu bewachen, und die jetzt seit langem verlassen war. Livia röstete auf dem Feuer ein bißchen Spelz in einer Metallschüssel und verknetete ihn mit etwas Wasser und geriebenem Käse, und das war ihr Abendessen. Sie saßen an einem kleinen Reisigfeuer und aßen fast schweigend, während von unten, abgeschwächt durch die Entfernung, unaufhörlich das Gequake der Frösche heraufdrang.

»Ich übernehme die erste Schicht«, sagte Livia und legte sich den Bogen über die Schulter.

»Wirklich?«

»Ja. Ich bin jetzt noch nicht müde und möchte lieber schlafen, wenn die Nacht schon vorgerückt ist. Versuche du, dich etwas auszuruhen.«

Aurelius nickte, band Juba an den Stamm eines Vogelbeerbaums, trat in die Hütte und streckte sich auf seinem Umhang aus. Eine Zeitlang beobachtete er, wie das Pferd von den schönen, schon reifen roten Früchten fraß, dann machte er es sich auf einer Seite bequem und versuchte einzuschlafen, aber der Gedanke an die Frau, die ihn auf seinen Abenteuern begleitete, versetzte ihn zunehmend in Unruhe und Erregung. Er hätte sich gern ganz diesem Gedanken hingegeben, der ihn immer mehr beherrschte und ihm das Herz erwärmte, aber er hatte Angst vor der Trennung, die unvermeidlich war, sobald ihre Mission beendet sein würde.

Livia blickte in der Dunkelheit hinunter auf die Lichter des feindlichen Lagers in der Ebene. Die Zeit verstrich, und sie hätte nicht sagen können, wieviel vergangen war, als sie plötzlich eine gewisse Unruhe wahrnahm. Sie sah, wie sich die Schatten barbarischer Reiter mit brennenden Fackeln durch den Sumpf bewegten. Wahrscheinlich ging es um eine einfache Erkundung des Geländes, aber dieser Anblick erinnerte sie an eine andere Szene, die sich ihrem Gedächtnis eingebrannt hatte: eine Schar barbarischer Reiter, die im Galopp auf das Ufer der Lagune zuritten, hinter ihnen ein Flammenmeer und vor diesem Hintergrund ein einziger Mann, der regungslos auf sie wartete. Sie erschauerte, als sei sie von einem eisigen Hauch gestreift worden, und wandte den Blick zur Hütte. Aure-lius war inzwischen eingeschlafen, erschöpft von dem langen Reisetag und der Schwäche aufgrund ihrer kümmerlichen Nahrung. Livia nahm, wie von einer plötzlichen Eingebung getrieben, ein brennendes Holzscheit aus dem Feuer und trat vorsichtig an ihn heran, kauerte sich neben ihm nieder und streckte die Hand aus, um seine Brust aufzudecken. Aurelius schnellte in die Höhe, das Schwert in der Hand, und hielt ihr die Spitze an die Kehle.

»Laß das, ich bin's nur«, sagte Livia und wich zurück.

»Aber was hast du gemacht? Ist dir klar, daß ich dich hätte umbringen können?«

»Ich habe nicht geglaubt, daß du aufwachen könntest, ich wollte nur ...«

»Was denn?«

»Du hast dich aufgedeckt, ich wollte dich zudecken.«

»Du weißt genau, daß das nicht stimmt. Und jetzt sag mir die Wahrheit, oder ich verschwinde auf der Stelle.«

Livia stand auf und setzte sich neben das Feuer. »Ich ... glaube, ich weiß, wer du bist.«

Aurelius kam näher und schien ein paar Sekunden lang das Züngeln der bläulichen Flammen zu beobachten, die an der Glut leckten, dann sah er Livia direkt in die Augen. In seinem Blick lag ein kalter Schatten, als sei seine Seele von einer trüben Flut von Erinnerungen überschwemmt worden, als hätte eine alte Wunde wieder angefangen zu bluten. Mit einem Ruck drehte er sich um. »Ich möchte nichts hören«, sagte er mit tonloser Stimme.

»Die Nacht ist soeben angebrochen«, antwortete Livia. »Es bleibt die ganze Zeit für eine lange Geschichte. Du hast gerade gesagt, daß du die Wahrheit wissen willst. Hast du das schon wieder vergessen?«

Aurelius wandte sich langsam um, senkte schweigend den Kopf, und Livia fuhr fort: »Eines Nachts, vor vielen Jahren, wurde die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, wo ich mein Zuhause und meine Eltern hatte, nach einer langen Belagerung plötzlich im Sturm erobert. Die Barbaren gaben sich der Plünderung hin und richteten ein Blutbad an. Die Männer wurden ermordet, die Frauen vergewaltigt und in die Sklaverei geführt, die Häuser geplündert und gebrandschatzt. Mein Vater starb, als er versuchte, sich zu verteidigen: Er wurde vor unseren Augen auf der Schwelle unseres Hauses in Stücke gehackt. Meine Mutter flüchtete und hielt mich an der Hand. Wir rannten durch die Dunkelheit, auf einem alten Wehrgang hinter dem Aquädukt, von Panik und Verzweiflung getrieben. Der Weg wurde da und dort vom Schein der brennenden Stadt beleuchtet, Rufe, Klagelaute und Wahnsinnsschreie hallten in jedem Winkel wider, von jeder Mauer, und prasselten vom Himmel herab wie Feuerhagel. Die Stadt war voller lebloser Körper, überall floß Blut. Ich war erschöpft, aber meine Mutter zog mich am Arm weiter. So gelangten wir an das Ufer der Lagune, wo ein mit Flüchtlingen überladener Kahn gerade dabei war, das Weite zu suchen. Es war der letzte - alle anderen Boote waren schon weit weg und verschwanden, vom Dunkel verschluckt, hinter dem letzten Schein des Feuers.« Sie hielt einen Moment inne und blickte ihrem Gesprächspartner bis in die Seele hinein, und dabei glänzten ihre Augen im Widerschein des Lagerfeuers vor Tränen; aber sie fand nichts als Erschütterung.