»Erzähl weiter«, sagte Aurelius.
Livia schlug die Hände vor das Gesicht, als wollte sie ihre Augen vor diesen Bildern schützen, die in ihrem Herzen brannten, vor jenen Erinnerungen, die lange in den Tiefen ihres Gedächtnisses verbannt gewesen waren. Dann faßte sie sich wieder und fuhr fort: »Der Kahn hatte schon vom Ufer abgelegt, und meine Mutter fing an zu schreien und watete, das Wasser bereits bis zu den Knien, auf das Boot zu und beschwor die Leute, auf uns zu warten ...«
Ein Blitz angstvollen Staunens durchzuckte Aurelius' Augen, und Livia rückte noch näher an ihn heran, bis er den salzigen Geruch wahrnahm, den ihr Sirenenkörper verströmte. Eine heiße Woge stieg ihm ins Gesicht; es erglühte, und er fühlte sich, als sei er in einen Flammenwirbel eingetaucht, und erneut verspürte er ein Gefühl der Panik, das ihm wie ein Fels auf dem Herz lastete. Erbarmungslos nahm Livia den Faden wieder auf: »Im Heck saß ein Mann, ein junger römischer Offizier mit blutverschmierter Rüstung. Als er uns sah, stieg er ins Wasser, half meiner Mutter hinein, und nahm mich in den Arm, während sie sich auf den einzigen noch freien Platz setzte, dann packte er mich um die Taille und schob mich hinauf, in ihre ausgestreckten Hände. Als ich das dunkle Wasser unter mir sah, bekam ich Angst und hielt mich an seinem Hals fest, und in diesem Moment habe ich ihm das hier abgerissen.« Während sie dies sagte, zeigte sie ihm die Medaille mit dem silbernen Adler, die sie am Hals trug, und fuhr dann fort: »Meine Mutter nahm mich in die Arme und drückte mich an ihre Brust, während der Kahn sich langsam immer weiter vom Ufer entfernte. Das letzte Bild, das sich mir einprägte, waren seine Gestalt, die regungslos am Ufer verharrte, ihre dunklen Umrisse vor dem Flammeninferno, das meine Stadt zerstörte, und ein Trupp barbarischer Reiter, die wie Dämonen herangaloppierten und brennende Fackeln schwangen. Dieser junge Offizier warst du. Da bin ich mir sicher.«
Sie drückte noch einmal den kleinen silbernen Adler zwischen ihren Fingern. »Seit jener Nacht trage ich ihn am Hals und habe nie die Hoffnung aufgegeben, dem Helden wieder zu begegnen, der uns das Leben gerettet und sich für uns geopfert hat.«
Sie schwieg und blieb regungslos vor ihrem Gefährten sitzen: Sie wartete auf eine Antwort, auf ein Zeichen, das ihr bestätigte, daß die Bilder jener fernen Nacht in ihm die Erinnerung an die Vergangenheit geweckt hätten. Aber Aurelius sagte nichts: Er preßte die Lider zusammen, um die Tränen zurückzudrängen, um den Schrecken zu bezwingen, die Angst vor der Leere, den Schraubstock der Kälte und der Finsternis.
»Deshalb fällt dein Blick instinktiv auf diese Medaille, weil du weißt, daß sie dir gehört, daß sie dir gehört hat. Es ist die Erkennungsmarke deiner Truppe - der achten Vexillatio Pannonica, der heroischen Verteidiger von Aquileia!«
Bei diesen Worten zuckte Aurelius vor Schmerz zusammen, aber er beherrschte sich. Er öffnete die Augen und blickte das Mädchen zärtlich an, legte ihr die Hände auf die Schultern und sagte: »Dieser junge Mann ist tot, Livia, er ist tot, verstehst du?«
Livia schüttelte den Kopf, während ihr die Tränen über das Gesicht rannen, aber er fuhr fort: »Er ist tot. Wie alle anderen. In dieser Garnison gab es keine Überlebenden. Das ist doch allgemein bekannt. Was du erzählst, ist der Traum eines kleinen Mädchens. Überlege doch einmaclass="underline" Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß dieser junge Mann mit dem Leben davongekommen ist, wenn er tatsächlich in der Situation war, die du geschildert hast? Und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß du ihn nach so vielen Jahren wieder triffst?«
Während er sprach, sah er im Geiste Wulfilas wutverzerrtes Gesicht wieder, und er hörte ihn schreien: »Ich kenne dich, Römer, ich habe dich schon einmal gesehen!« Dennoch setzte er hinzu: »Solche Dinge kommen nur in Märchen vor. Du mußt dich damit abfinden.«
»Wirklich? Dann sage mir, wo du in der Nacht warst, in der Aquileia fiel?«
»Das weiß ich nicht, glaube mir. Diese Zeit liegt zu weit zurück. Weiter als meine Erinnerung reicht.«
»Aber vielleicht kann ich dir einen Beweis liefern. Hör zu, als ich zu dir getreten bin, während du schliefst, wollte ich sehen, ob ...«
»Ob was?« »Ob du eine Narbe auf der Brust hast, genau am Halsansatz. Ich ... ich glaube, mich zu erinnern, daß dieser Soldat eine Wunde auf der Brust hatte, die blutete.«
»Viele Soldaten haben Narben auf der Brust. Die tapferen jedenfalls.«
»Und warum fällt dein Blick dann immer auf diese Medaille?«
»Ich schaue nicht auf die Medaille. Ich schaue ... auf deinen Busen.«
»Hör auf!« rief Livia, vor Wut und Enttäuschung bebend. »Hau ab! Laß mich allein!«
»Livia, ich ...«
»Laß mich allein«, wiederholte sie mit leiser Stimme.
Aurelius entfernte sich, und sie sank neben der letzten Glut auf die Knie. Das Gesicht mit den Händen bedeckt, weinte sie leise vor sich hin.
So blieb sie lange, bis sie fühlte, wie die Kälte ihr in die Knochen kroch. Dann hob sie den Kopf und sah Aurelius reglos gegen den Stamm einer Eiche gelehnt sitzen - ein Schatten zwischen den Gespenstern der Nacht.
X
Aurelius ging zum Bach, legte seinen Brustpanzer und das Hemd ab und begann, seinen Oberkörper zu waschen; dabei verweilte er mit den Fingern auf der Narbe, dort, wo sich seine Haut direkt unterhalb der Schlüsselbeine kräuselte. Die Berührung mit dem eiskalten Wasser ließ ihn zunächst zusammenzucken, doch dann gab sie ihm nach einer unruhigen, teilweise schlaflosen Nacht ein Gefühl von neuer Kraft und Energie. Plötzlich spürte er einen Schmerz, der ihn veranlaßte, die Augen zu schließen und die Zähne zusammenzubeißen. Aber der Schmerz kam nicht von dieser Narbe, sondern von einem Knochenkallus, der im Bereich seines Hinterkopfes aus dem Schädel ragte, vielleicht als Folge eines Sturzes oder eines Schlages, den er, wer weiß, wann und wo, erlitten hatte. Im Laufe der Zeit trat dieser heftige, anhaltende und pulsierende Schmerz immer häufiger und immer stärker auf. »Sie brechen auf!« rief Livia. »Wir müssen los!« Aurelius trocknete sich ab, bevor er sich umdrehte, dann schlüpfte er in das Hemd und legte den Brustpanzer an, hängte das Schwert an den Schulterriemen und stieg den kurzen Weg hinauf zu Juba, der ruhig das taufeuchte Gras abweidete. Er sprang auf und sprengte im Galopp los, gefolgt von Livia. Als sie wieder in Gleichschritt fielen, sagte Aurelius: »Das Wetter wird schlechter, meine Schmerzen täuschen sich nie.« Livia lächelte. »Auch mein Großvater hat das immer behauptet. Ich erinnere mich an ihn, wie wenn er vor mir stünde: hager, wortkarg und fast zahnlos, aber er war ein Veteran und hatte mit Eugenius in der Schlacht am Frigidus gekämpft und war nur durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen. Er hatte wie du Schmerzen, wenn das Wetter umschlug, auch wenn er nicht wußte, woher sie kamen, so viele Narben und Knochenbrüche schleppte er mit sich herum. Aber er irrte sich nie: Sechs oder sieben Stunden später regnete es, oder es passierte noch Schlimmeres.«
Unten schlängelte sich die lange Reihe der herulischen und skirischen Krieger, die den Wagen des jungen Kaisers und seines Mentors eskortierten, durch die letzten Ausläufer der Sümpfe. Bei ihrem Vorbeimarsch tauchten ganze Gruppen von naßglänzenden Büffeln aus dem Morast auf, um ein paar Schritte zurückzuweichen. Andere, die auf der Straße lagen, um sich in der Morgensonne zu trocknen, erhoben sich, sobald sich die Pferde näherten, und dann trotteten diese trägen, schlammbedeckten Kolosse hinüber zu der Wiese, die mit violett blühenden Disteln und goldgelben Löwenzahnblüten übersät war.
Vor Aurelius und Livia breitete sich die fruchtbarste Ebene Italiens aus mit Feldern, die gelb waren von Stoppeln oder braun von den erst kurz zuvor umgepflügten Schollen. Ein kleines verfallenes Heiligtum bezeichnete die Stelle, an der das Gebiet irgendeines alten Oskerstammes anfing, und an einer Weggabelung befand sich eine kleine Ädikula mit dem christlichen Bild, das vor einiger Zeit das der Hekate Trivia abgelöst hatte - eine Darstellung der Maria, die das göttliche Kind in den Armen hält.