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»Hast du ein Kind?« fragte Aurelius plötzlich.

»Nein. Aber die Kinder des einen sind die Kinder aller. Wir teilen uns das, was wir haben, und helfen einander. Wir wählen unsere Führer mit der Stimme aller und haben die alte republikanische Verfassung unserer Vorfahren wieder eingeführt, die von Brutus und Scaevola, von Cato und Claudius.«

»Du sprichst von deiner Lagune wie von einem wirklichen Vaterland.«

»Das ist sie auch!« erwiderte Livia. »Und wie das Rom der frühen Zeit lockt es Flüchtlinge und Verbannte, Verfolgte und Entrechtete an. Wir haben Boote mit flachem Boden gebaut, die überallhin kommen, wie das, das dich in der Nacht deiner Flucht aus Ravenna aufgelesen hat. Aber wir bauen auch Schiffe, die aufs offene Meer hinausfahren können. Fast jeden Tag entstehen neue Häuser, und die Zeit wird kommen, da wird Venetia der Stolz dieses Landes und eine große Stadt am Meer sein. Das also ist mein Traum. Vielleicht habe ich deswegen niemals einen Mann oder ein Kind gehabt und bin, nachdem ich meine Mutter verloren habe, die eine Krankheit dahinraffte, allein geblieben.«

»Ich kann nicht glauben, daß ein Mädchen, das so ... so schön ist, niemals einen ...«

»... Mann gehabt hat? So etwas kommt vor. Vielleicht, weil ich nie dem Mann begegnet bin, der mir vorschwebte. Vielleicht, weil alle sich verpflichtet oder imstande fühlen, sich um ein Mädchen zu kümmern, das allem geblieben ist. Ich habe beweisen müssen, daß ich mir selbst genüge, und das wirkt auf Männer nicht gerade verlockend, ja, es schreckt sie ab.

Andererseits müssen in meiner Stadt alle kampfbereit sein, und ich habe gelernt, mit Pfeil und Bogen und mit dem Schwert umzugehen, ehe ich kochen und nähen konnte. Bei uns kämpfen auch die Frauen, wenn es sein muß. Sie haben gelernt, zwischen dem Geräusch einer Welle, die vom Wind getrieben wird, und dem einer Welle, die von einem Ruder bewegt wird, zu unterscheiden, und sie haben gelernt, dann, wenn sie Wache schieben müssen, im Stehen zu pinkeln, wie die Männer ...«

Aurelius mußte bei diesen so derben Worten insgeheim schmunzeln, aber Livia fuhr fort: »Trotzdem brauchen wir Männer wie dich, um unsere Zukunft aufzubauen. Wenn wir beide diese Mission erfüllt haben, würde es dir dann nicht gefallen, dich bei uns niederzulassen?«

Aurelius schwieg, weil er nicht wußte, was er auf diese gänzlich unerwartete Frage antworten sollte, doch nach einigen Augenblicken des Schweigens erwiderte er schließlich: »Ich würde dir gern sagen, was ich in diesem Moment empfinde, aber ich bin wie jemand, der sich im Dunkeln auf unbekanntem Gelände bewegt, und kann nur einen Schritt nach dem anderen tun. Versuchen wir erst einmal, diesen Jungen zu befreien. Das ist ja auch kein Pappenstiel.«

Dann streifte er ihre Lippen mit einem Kuß. »Und jetzt versuche, dich auszuruhen«, sagte er. »Heute übernehme ich die erste Schicht.«

XI

Zwei Tage später trafen sie gegen Abend in der Umgebung von Pozzuoli ein. Die Tage waren nun schon deutlich kürzer, und die Sonne ging, von einem Kranz rötlichen Dunstes umgeben, recht früh unter. Der schönste Landstrich Italiens wirkte immer noch im großen und ganzen wie eine Insel der Seligen: Hier sah man keine Spuren der grauenhaften Verwüstungen wie im Norden und auch nicht die Traurigkeit und das Elend der Regionen Mittelitaliens. Die außerordentliche Fruchtbarkeit der Felder, die zwei Ernten im Jahr erlaubte, sorgte dafür, daß alle ausreichend zu essen hatten und sogar noch genug übrigblieb, das man zu hohen Preisen in solche Gebiete verkaufen konnte, in denen Mangel herrschte. Es gab noch Gemüse in den Gärten und sogar Blumen in den Beeten, und die Präsenz der Barbaren machte sich hier weniger bemerkbar als im Norden. Die Menschen waren freundlich und zuvorkommend, die Kinder lärmend und ein wenig lästig, und überall hörte man noch den starken griechischen Akzent der Neapolitaner. In Pozzuoli kauften Livia und Aurelius sich etwas zu essen auf dem Markt, der an den Wochentagen mit geraden Zahlen im Amphitheater abgehalten wurde. In der Arena, die früher einmal vom Blut der Gladiatoren getränkt war, drängten sich jetzt Verkaufsstände, an denen Rüben und Kichererbsen, Kürbisse und Lauch, Zwiebeln und Bohnen, Wirsingkohl, Radicchio und außerdem jede Art von Früchten feilgeboten wurden, die frisch geerntet waren und unter denen vor allem Feigen, rote, grüne und gelbe Äpfel und Granatäpfel von einem schönen, flammenden Rot auffielen. Einige von ihnen lagen kunstvoll aufgeschnitten da, so daß man ihre rubinfarbenen Samen sehen konnte. Eine wahre Augenweide.

»Man fühlt sich wie neugeboren«, sagte Aurelius. »Hier ist alles so anders.«

»Bist du noch nie hiergewesen?« fragte Livia. »Ich schon. Vor ein paar Jahren, zusammen mit Leuten von Antemius, um den Bischof von Nicäa bis nach Rom zu begleiten.«

»Nein«, antwortete Aurelius. »Ich bin nie weiter südlich als Pa-lestrina gekommen. Unsere Truppe ist immer im Norden stationiert gewesen: in Noricum oder in Raetien oder in Pannonien. Hier ist das Klima so mild, alles duftet so gut, und die Menschen sind so umgänglich. Es scheint eine andere Welt zu sein.«

»Verstehst du jetzt, warum die Leute, die hierherkommen, nicht mehr von hier wegwollen?«

»Und ob!« erwiderte Aurelius. »Und wenn ich ehrlich sein soll, würde ich mich, wenn ich die Wahl hätte, auch viel lieber hier niederlassen als in deinem Sumpf.«

»Lagune«, verbesserte ihn Livia.

»Lagune oder Sumpf - was macht das schon für einen Unterschied? Von wo aus werden sie deiner Meinung nach in See stechen?« wechselte er plötzlich das Thema.

»Von Neapel aus. Zweifellos. Das ist der kürzeste Weg nach Capri. Und dort sind auch genug Lager, in denen man sich mit allem eindecken kann, was man für einen langen Aufenthalt braucht.«

»Dann also los! Wir haben nicht viel Zeit, und diese Gegend ist verführerisch. Auch Hannibal und sein Heer haben sich vom Müßiggang und den Lebensgenüssen in dieser Gegend verweichlichen lassen.«

»Die Muße von Capua ...«, stimmte ihm Livia zu. »Du kennst Titus Livius und Cornelius Nepos. Du hast wie ich eine Erziehung genossen, wie sie für eine gute Familie der Mittel-, wenn nicht gar der Oberschicht typisch ist. Andererseits: Wenn der Name, den du trägst, wirklich der deine ist ...« »Er ist der meine!« schnitt ihr Aurelius das Wort ab.

Am späten Vormittag des folgenden Tages erreichten sie den Hafen von Neapel und mischten sich unter die Menschenmenge, die sich auf dem Markt um die Stände drängte, um sich umzuhören und womöglich die eine oder andere Information aufzuschnappen. Am Stand eines Straßenhändlers aßen sie Brot und gebratenen Fisch und bewunderten die Schönheit des Golfes und das beeindruckende Massiv des Vesuvs, aus dem eine Rauchfahne aufstieg, die der Wind nach Osten drückte. Gegen Abend sahen sie den kaiserlichen Zug herannahen: Die Rüstungen, die Schilde und die Helme der Barbarenkrieger wirkten in der friedlichen, fröhlichen und farbenfrohen Atmosphäre des Hafens wie ein monströser Mummenschanz. Die Kinder schlichen sich fast bis zwischen die Beine der Pferde, andere traten nahe an die Krieger heran und versuchten, ihnen Süßigkeiten, geröstete Kerne und Rosinen zu verkaufen. Als Romulus aus seinem Wagen stieg, drängten sie sich um ihn, fasziniert von seinem Äußeren, von seinen bestickten Gewändern, seinen aristokratischen Zügen und seinem melancholischen Ausdruck. Weder Aurelius noch Livia konnten sich diesem Anblick entziehen: Er hatte sein Gesicht unter einem breitkrempigen Strohhut versteckt und sie das ihre hinter einem Schal, und so gingen sie die Mole hinunter, hielten sich aber im schützenden Schatten des Portikus, der sie bis zum Ende säumte. Auf diese Weise gelang es ihnen, den kindlichen Kaiser, umgeben von seinen jungen Untertanen, aus sehr kurzer Distanz zu beobachten.