»Kommst du mit uns spielen?« fragte einer.
»Ja, komm doch, wir haben einen Ball!« rief ein anderer.
Einer reichte ihm eine Frucht. »Möchtest du einen Apfel? Der schmeckt wirklich gut, ehrlich!«
Romulus lächelte etwas verlegen, weil er nicht wußte, was er antworten sollte, aber Wulfila stieg vom Pferd und trieb alle mit seiner unschönen Stimme und seinem gräßlichen Gesicht in die Flucht. Eine Gruppe Lastenträger hatte gerade die Waren ausgeladen, die für die Residenz in Capri, das letzte Gefängnis des Kaisers des Westens, bestimmt waren. Dann näherten sich zwei große Schiffe und nahmen nach und nach Menschen und Waren an Bord. Als letzter bestieg der Knabe, begleitet von seinem Erzieher, das Schiff.
Ambrosinus hob, während er an Bord ging, den Saum seines Gewandes hoch und entblößte seine knochigen Knie; gleichzeitig blickte er um sich, als suche er etwas oder jemanden. Einen ganz kurzen Moment lang kreuzte sein Blick den von Aurelius unter der Hutkrempe, und der Ausdruck seines Gesichts und das flüchtige Kopfnicken machten deutlich, daß er ihn erkannt hatte.
Die Matrosen machten die Leinen los und riefen sich während der Manöver knappe Befehle zu: Während einige den Anker einholten und die Taue lösten, setzten andere die Segel. Livia und Aurelius traten aus dem Schatten heraus und gingen bis zum Ende der Mole, um noch lange der Gestalt des Romulus nachzusehen, der aufrecht im Heck stand und mit zunehmender Entfernung immer kleiner wurde. Der Wind zerzauste ihm die Haare und blähte sein Gewand auf, und vielleicht trocknete er an diesem traurigen, milchfarbenen Abend die Tränen auf seinem Gesicht.
»Der arme Junge«, sagte Livia.
Aurelius ließ das bereits weit entfernte Schiff nicht aus den Augen, und es kam ihm so vor, als habe der Knabe zum Abschied sogar die Hand gehoben.
»Vielleicht hat er uns gesehen«, sagte er.
»Schon möglich«, stimmte Livia ihm zu. »Aber jetzt komm, gehen wir zurück. Es ist besser, wenn man nicht auf uns aufmerksam wird.«
Aurelius blieb vor einer Herberge namens Parthenope stehen; so stand es auf dem Schild, auf dem eine kaum identifizierbare Gestalt ins Auge fiel, mit der der Künstler wohl eine Sirene hatte darstellen wollen. »Sie hatten nur noch ein Zimmer frei«, sagte er, während sie die Treppe hinaufstiegen, »und das wirst du mit mir teilen müssen.«
»Wir haben schon unter übleren Bedingungen übernachtet, und ich glaube nicht, daß ich mich jemals beklagt habe«, erwiderte Livia. Sie sah ihn mit einem vieldeutigen Blick an und fügte hinzu: »Und außerdem gibt es zwischen uns beiden nicht mehr als ein Kampfbündnis, deshalb besteht überhaupt keine Gefahr, wenn wir im selben Zimmer schlafen. Habe ich nicht recht?«
Livia nahm eine Laterne und trat ein. Das Zimmer war ziemlich klein und schmucklos, aber beinahe ordentlich. Das Mobiliar bestand aus zwei kleinen Feldbetten und einer Truhe. In einer Ecke standen ein mit Wasser gefüllter Krug und eine Waschschüssel und in einer Wandnische der Nachttopf mit seinem Metalldeckel. Auf der Truhe fanden sie ein Tablett mit einem Laib Brot, einem kleinen Stück Käse und zwei Äpfeln. Sie wuschen sich die Hände und aßen schweigend.
Als sie sich schon zum Schlafengehen fertigmachten, hörten sie ein Klopfen an der Tür.
»Wer ist da?« fragte Aurelius und drückte sich, das Schwert in der Hand, gegen die Wand neben dem Türpfosten.
Niemand antwortete. Aurelius machte Livia ein Zeichen, die Tür zu öffnen, und hielt einsatzbereit die Waffe fest in der Faust. Livia schwang ihren Dolch in der Linken, schob mit der Rechten vorsichtig den Riegel hoch und riß dann blitzschnell den Türflügel auf. Der Flur war leer und von einer Laterne, die an der Wand befestigt war, nur spärlich beleuchtet.
»Schau«, sagte Aurelius und deutete auf etwas am Boden. »Jemand hat uns eine Nachricht hinterlassen.«
Auf dem Fußboden lag ein kleines, zusammengefaltetes Stück Pergament. Livia hob es auf und öffnete es. Es waren wenige Zeilen, in Schreibschrift abgefaßt, versehen mit einem winzigen spbragis, einem Siegel östlicher Herkunft mit drei ineinander verflochtenen griechischen Buchstaben.
»Das ist Antemius' Unterschrift«, sagte Livia strahlend. »Ich war mir sicher, daß er uns nicht im Stich lassen würde.«
»Was steht drin?« fragte Aurelius.
»Stephanus hat Geld hinterlegt, das bei einem Bankier in Pozzuoli für uns bereitliegt. Wir können Männer anwerben und über die Kuriere, die die Kreditbriefe befördern, auch Nachrichten an Antemius schicken. Das ist unser geheimes Kommunikationssystem, und es hat bisher immer sehr gut funktioniert.«
»Ich muß meine Kameraden finden, obwohl es nur eine vage Hoffnung gibt. Aber selbst wenn nur ein einziger seine Haut gerettet hat, will ich ihn unbedingt aufspüren.«
»Beruhige dich. Wir werden alles Menschenmögliche tun, aber die Wahrscheinlichkeit ist gering.«
»Ambrosinus hat mir gesagt, daß römische Gefangene nach Miseno gebracht würden.«
»Und genau dorthin werden wir reisen, aber du darfst dir weder etwas Sicheres noch etwas Erfreuliches erwarten. Auch wenn deine Leute sich dort aufhalten, sind sie immer noch Sklaven, verstehst du? Sklaven. Wahrscheinlich angekettet. Bestimmt auf Sichtweite bewacht. Sie zu befreien würde uns sehr hohen Risiken aussetzen und die Durchführung der wichtigeren Aufgabe gefährden.«
»Es gibt keine wichtigere Aufgabe. Oder hast du mich nicht richtig verstanden?«
»Du hast mir dein Wort gegeben.«
»Du mir auch.«
Livia senkte den Kopf und biß sich auf die Lippen: Es gab keinen anderen Weg. Aurelius war offensichtlich nicht umzustimmen.
Am nächsten Morgen brachen sie noch vor der Morgendämmerung auf. Ein kalter Nordwind hatte den Dunst vertrieben, und am klaren Himmel glänzte tief, kaum über dem Meeresspiegel, eine Mondsichel. Capri zeichnete sich deutlich, steil und felsig, am Horizont ab; in der Höhe war die Insel mit einer dichten Vegetationsdecke überzogen. Im Süden wurde die Rauchfahne, die aus dem Schlund des Vesuvs emporstieg, immer größer und dunkler und malte auf den azurblauen Himmel einen langen Streifen, schwarz wie der Schleier eines Klageweibes.
Bei Sonnenaufgang trafen sie Antemius' Bankier, einen gewissen Eustasius, vor den Stadtmauern in einem abgelegenen Kirchlein, einer kleinen, dem Märtyrer Sebastian geweihten Kapelle, und das Bildnis des Heiligen, der an einen Pfahl gebunden und von Pfeilen durchbohrt war, traf Aurelius wie ein Peitschenhieb. Durch sein lückenhaftes Gedächtnis ging ein Ruck, und er suchte so fieberhaft nach irgendeinem Zusammenhang, daß ihn die Angst packte. Aber er riß sich zusammen und versuchte, seine Aufgewühltheit zu verbergen.
»Informationen könnten uns dienlich sein«, sagte Livia, die tat, als habe sie nichts bemerkt.
»Verlaßt euch auf mich«, erwiderte Eustasius, »bei allem, was in meiner Macht steht.«
»Es ist uns bekannt, daß einige in Gefangenschaft geratene römische Soldaten nach Miseno gebracht wurden, um auf den Schiffen Frondienst zu leisten.«
»Der Militärhafen ist schon größtenteils abgerüstet worden«, antwortete Eustasius, »und die wenigen Schiffe liegen in dieser Jahreszeit im Trockendock, um überholt zu werden. Die Ruderer werden für andere Zwecke eingesetzt.«
»Wofür denn?« fragte Aurelius ungeduldig.
»Einige in den Schwefelminen oder in den Salinen, andere läßt man bei geheimen Veranstaltungen als Gladiatoren kämpfen. Die Einsätze bei den Wettgeschäften sind schwindelerregend. Darüber weiß ich ziemlich gut Bescheid.«
»Ob es sich dabei um Soldaten handelt?« beharrte Aurelius.