»Hierher!« rief Aurelius. »Auf diese Seite! Schnell, schnell!« Ein entsetzlicher Tumult brach los. Die Leute rannten, von Angst gepackt, in alle Richtungen. Die Wachen setzten den dreien nach, aber da trat Livia auf den Plan: Die beiden ersten wurden mit tödlicher Präzision durchbohrt - der eine in die Brust, der zweite mitten in die Stirn getroffen; ein dritter wurde wenige Schritte von der Rampe entfernt an den Boden genagelt. Den übrigen Wachen, etwa zwanzig an der Zahl, gelang es, den Fuß der Treppe zu erreichen und die Verfolgung aufzunehmen; dabei brüllten sie und lösten Alarm aus. Oben erschien der Pförtner auf der Estrade, aber Livia, die sich flach gegen die Wand drückte, gab ihm von hinten einen solchen Stoß, daß er über die Brüstung flog. Sein Geheul endete erst hundert Fuß weiter unten, mit dem brutalen Aufprall auf dem Boden. Sie waren schon dem Ausgang nahe, als sich plötzlich die Tür von außen schloß und man das schnappende Geräusch von Riegeln hörte. Da sich die Wachen bereits fast am oberen Ende der Treppe befanden, waren sie gezwungen, sich umzudrehen und sich mit ihnen einen Kampf zu liefern. Batiatus packte den ersten, der ihm in die Quere kam, schleuderte ihn wie einen Hampelmann auf die anderen und ließ sie so allesamt die Treppe hinuntcrpurzeln. Dann drehte er sich zur Tür und rief: »Zurück!« Die Freunde sprangen zur Seite, und er stürzte sich wie ein Rammbock dagegen. Aus den Angeln gerissen, krachte die Tür zu Boden, und die drei Männer und Livia gelangten ins Freie. Eine der Wachen draußen war unter der Tür zermalmt worden, ein anderer ergriff allein beim Anblick dieses schwarzen Dämons, der aus einer Wolke von Schutt auftauchte, die Flucht.
»Hierher, mir nach, los!« rief Livia. Aber Aurelius wandte sich zum Schott der Wasserzufuhr und schrie: »Sie wollten ein Bad im Bassin, und jetzt werden sie es bekommen! Beim Herkules!«
»Dazu bleibt keine Zeit!« brüllte Livia. »Los! Tempo!«
Aber Aurelius war bereits bei der Winde, Batiatus an seiner Seite. Das eingerostete Räderwerk klemmte, aber die Kraft des Giganten setzte es, nachdem es einen kurzen Ruck getan hatte, in Bewegung. Das Schott öffnete sich, und das Wasser stürzte tosend wie ein Wasserfall in das Becken. Die verzweifelten Schreie der Menschenmenge drangen durch die schmale Öffnung der oberen Tür wie ein Chor verdammter Seelen aus den Tiefen der Hölle, aber schon eilten die beiden Freunde hinter Livia und Vatrenus her, die bereits den Hang hinunter zu den Pferden rannten.
Plötzlich hörten sie hinter sich einen Schrei: »Wartet auf uns! Wir kommen mit euch!«
»Wer sind die denn?« fragte Aurelius und drehte sich um.
»Zwei Leidensgefährten«, erwiderte Batiatus keuchend. »Weiter! Wir dürfen keine Zeit verlieren!«
Aurelius und Livia erreichten ihre Pferde und führten die anderen zu der Ölmühle am Rand eines Olivenhains, wo noch drei weitere Tiere auf sie warteten.
»Ich hatte nicht mit einer so zahlreichen Begleitung gerechnet. Die beiden leichtesten zusammen auf eines!« befahl Aurehus. »Batiatus, das ist deines!« Und er zeigte auf ein stämmiges pannom-sches Roß mit dunklem Deckhaar.
»Das will ich meinen!« rief Batiatus und sprang auf. Just in diesem Augenblick hörte man eine Trompete, die gellend Alarm schlug.
»Los!« schrie Livia. »Nichts wie weg von hier! In wenigen Minuten sind sie uns auf den Fersen!«
Sie galoppierten durch den Olivenhain, bis sie zu einer in den Tuffstein gehauenen Grotte gelangten: ein Unterschlupf für die Schafe, die nachts zwischen den Stoppeln weideten. Von dieser nicht einsehbaren Stelle aus beobachteten sie, wie sich die Gegend mit den Schatten von Reitern mit brennenden Fackeln füllte, die wie verrückt gewordene Sternschnuppen kreuz und quer durch die Dunkelheit jagten. Schon bald hallte jede Schlucht von ihren Schreien, wütenden Befehlen und Zurufen wider. Doch die alten Waffenbrüder sahen und hörten nichts. Außer sich vor Freude, hielten sie sich in diesem Augenblick fest und voller Rührung in den Armen; sie erkannten sich im Dunklen wieder, auch ohne sich zu sehen - am Geruch, am Klang der vor Aufregung rauhen Stimmen, an der Festigkeit ihrer Muskeln, wie alte Bluthunde, die von einer nächtlichen Treibjagd zurückkehren. Aurehanus Ambrosius Ventidius, Rufius Elius Vatrenus und Cornelius Batiatus, römische Soldaten, Römer, weil sie Rom die Treue geschworen hatten.
ZWEITER TEIL
XIII
Sie machten sich wieder auf den Weg und ritten im Galopp in Richtung Cumae, der alten, ruhmreichen griechischen Kolonie, die mittlerweile zu einem bescheidenen Fischerdorf herabgesunken war. Livia schien sich in dieser Gegend ziemlich gut auszukennen und bewegte sich im Halbdunkel der Nacht mit großer Geschwindigkeit und Sicherheit. Die Flucht von vier Sklaven, die Ermordung von einem halben Dutzend Wachen und der gewaltige Tumult in der Piscina Mirabilis hatten wohl einen unglaublichen Aufruhr zur Folge gehabt, so daß es ratsam war, so schnell wie möglich an einen sicheren Ort zu gelangen, auf den die Verfolger keinen Zugriff hatten. Zudem war Batiatus so hünenhaft, daß er überall aufgefallen wäre, und so waren sie gezwungen, eine Möglichkeit zu finden, die es ihm erlaubte, unbemerkt zu bleiben. Unterwegs war es am klügsten, um Herbergen, Wirtshäuser und öffentliche Plätze einen großen Bogen zu machen. Ihr Ziel war die Totenstadt, wo Livia sie zu einer ihr bekannten Stelle brachte, nämlich zur alten Höhle der Sibylle von Cumae - ein finsterer Ort, von dem es hieß, er werde von Dämonen heimgesucht. Ein zusätzlicher schwarzer Dämon würde also das Gerede unter dem Volk nur bestätigen.
Sie machten im Inneren des baufälligen Maucrgürtcls halt, und Livia führte ihre Begleiter in die Höhle. Der Raum war eine Art künstlicher Tunnel, in den Felsen gehauen und am oberen Ende wie ein Trapez geformt. Nachdem es Livia gelungen war, ein mickeriges Feuerchen zu entfachen, machte sie sich daran, Batiatus' Wunde zu nähen und so gut es ging zu verbinden. Dann gab sie ihm ein Tuch, das er sich umlegen konnte. Unterdessen versuchten die anderen, es sich in diesem ungemütlichen Unterschlupf so bequem wie möglich zu machen: Aurelius sammelte eine Menge trockener Blätter, von denen er einige auf das Feuer warf, das daraufhin nur noch mehr qualmte als brannte, andere streute er auf den Boden, um für sie alle so etwas wie ein Nachtlager zu bereiten. Livia dagegen zog aus ihrem Quersack alles hervor, was sie an Eßbarem bei sich trug, und das war in der Tat herzlich wenig - ein Laib Käse, eine Handvoll Oliven und ein Brot - , um es den erschöpften Männern zum Abendessen anzubieten.
»Es ist nichts Besonderes, gerade genug, um den Magen in Illusionen zu wiegen. Morgen werden wir sehen, wie wir Abhilfe schaffen können, jetzt legt ihr euch am besten hin und ruht euch aus. Bald bricht schon der neue Tag an.«
»Wir? Uns ausruhen?« rief Batiatus. »Du machst wohl Scherze, Mädchen. Wir haben uns viel zuviel zu erzählen. Ja, hast du überhaupt eine Vorstellung, wer wir sind? Was wir nicht alles miteinander erlebt haben? Ihr Götter des Himmels, ich kann es nicht fassen! Da kommt doch der daher und sagt zu mir: >He, du Kohlensack, ich habe einen ganz schönen Batzen auf dich gesetzt. Schau zu, daß du mich nicht enttäuschst Ich dreh mich schon um und wall diesem Hurensohn ins Gesicht spucken, und wen sehe ich da? Den leibhaftigen Aurelianus Ambrosius Ventidius, direkt vor mir. Beim Herkules, ich schwöre euch, ich habe gedacht: Gleich trifft mich der Schlag. Ich sage mir: Was macht denn der hier, dieser Halunke, dieses Schlitzohr? Was hat er vor? Wetten, daß er gekommen ist, um seinen guten, alten Freund zu befreien?« Seine Stimme zitterte, während er sprach, und seine Augen blitzten wie die eines Kindes. »Wetten, habe ich mir gesagt, daß er sich an mich erinnert und mich in diesem ekelhaften Loch aufgestöbert hat, und dann frage ich mich, wie hat er es bloß geschafft, mich da unten in dieser Kloake aufzuspüren? Wer hat ihm gesagt, daß ich dort bin? ... Ihr Götter des Himmels, ich kann es immer noch nicht fassen! Versetzt mir mal einen Fausthieb! Ich möchte aufwachen, für den Fall, daß ich träume!«