Vatrenus verabreichte ihm tatsächlich eine gehörige Kopfnuß. »Hast du jetzt gemerkt, daß du wach bist? Alles in Ordnung, schwarzer Mann! Wir haben es geschafft, wir haben es geschafft! Wir haben ihnen allesamt ein Schnippchen geschlagen. Stellt euch bloß mal vor, wie viele achtbare Persönlichkeiten er wohl angetroffen hat, der Herr Richter, wie viele fromme Matronen, die da alle im Wasser zappelten, in flagranti ertappt bei einem verbotenen Gladiatorenspiel? Ich wäre gern ein Frosch gewesen, um diese Szene auszukosten! Und stellt euch mal vor, wie viele Leute in der Stadt und in der Umgebung morgen einen Schnupfen haben?«
Aurelius prustete los, und die anderen Männer fielen in ein lautes, glucksendes Gelächter ein, in das sich mitunter ein Schluchzen mischte: ein befreiendes Lachen wie das Weinen eines Kindes, das lange unter großer Angst gelitten hatte.
Livia betrachtete sie schweigend. Die Kameradschaftlichkeit unter Männern war etwas, das sie faszinierte. Sie sah darin all die besten Eigenschaften des Mannes vereint: Freundschaft, Solidarität, Opferbereitschaft und Begeisterungsfähigkeit. In dieser Situation ging ihr nicht einmal das unflätige Gerede kasernierter Männer, an das sie nicht gewöhnt war, gegen den Strich.
Dann verfielen sie plötzlich in Schweigen, in das Schweigen der schönen und der schlimmen Erinnerungen, das Schweigen von Männern, die Jahre lang gemeinsam denselben Gefahren getrotzt, dieselben Qualen ausgestanden und unter denselben Entbehrungen gelitten hatten mit dem einzigen Trost der Freundschaft, der Wertschätzung und jetzt der unglaublichen Freude darüber, sich wider jede vernünftige Erwartung und trotz der schlimmsten Schicksalsschläge wiedergefunden zu haben. Man konnte ihre Gedanken förmlich sehen, in ihren Blicken, in ihren feuchten Augen, in den eingefallenen Gesichtern; man konnte ihre Geschichte ablesen an den schwieligen Händen, an den Armen voller Narben, auf den Schultern, die gezeichnet waren von der Last der Waffen. Sie dachten an ihre Kameraden, die nicht mehr am Leben waren, die sie für immer verloren hatten, und an ihren Kommandanten Claudianus, der zunächst verwundet und dann inmitten feindlicher Raserei niedergemetzelt worden war - für immer der Ehre des Patriziers beraubt, im Mausoleum seiner Ahnen zu ruhen.
Aurelius war es, der dieses emotionsbefrachtete Schweigen brach, als ihm bewußt wurde, daß seine Gefährten sich angezogen fühlten vom Aussehen und Verhalten Livias, die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Gewiß fragten sie sich, wer diese Frau sein könnte und warum sie sich mit ihnen an diesem Ort befand.
»Dieses Mädchen hier heißt Livia Prisca«, sagte Aurelius, »und kommt aus einem Dorf mit nur wenigen Hütten an der Lagune zwischen Ravenna und Altino. Sie ist unser Oberhaupt, auch wenn mir klar ist, daß euch diese Tatsache wahrscheinlich überhaupt nicht gefällt.«
»Du beliebst wohl zu scherzen«, erwiderte Vatrenus und tat, als würde er sich schütteln. »Der Anführer bist du, auch wenn ich, zumindest theoretisch, einen höheren Dienstrang habe als du.«
»Nein. Sie hat mir das Leben gerettet und eine Aufgabe verschafft, etwas, wofür ich kämpfen kann. Sie ist eine Frau, aber sie ist wie ein Mann ... in mancher Hinsicht sogar noch besser. Sie ist ... sie ist ... Jedenfalls bezahlt sie uns dafür, daß wir eine Mission erfüllen. Aber damit das gleich klar ist: Bei dieser Mission habe ich das Sagen!«
Batiatus schüttelte verblüfft seinen großen Kopf. Nun meldete sich Livia zu Wort und deutete auf die beiden Männer, die sich ihnen auf der Flucht angeschlossen hatten. »Und diese beiden da, wer sind sie? Können wir ihnen vertrauen?«
»Wir sind euch dankbar dafür, daß ihr uns erlaubt habt, mit euch zu kommen«, sagte einer der beiden. »Ihr habt uns das Leben gerettet. Mein Name ist Demetrios, ich bin ein Grieche aus Herakleia, ein Kriegsgefangener. Ich wurde von den Goten bei Sirmium gefangengenommen, als ich mit meinem Boot auf der Donau patrouillierte, und bin dann an Odoakers Heruler verkauft worden, die mich hierherschickten, um in der Flotte zu dienen, weil ich ja Seemann bin. Ich bin ein sehr guter Fechter, das versichere ich euch, und auch sehr geschickt im Messerwerfen. Das hier ist mein Freund und Waffenbruder Orosius. Er hat in der halben Welt an Feldzügen teilgenommen und hat ein so dickes Fell wie ein Elefant.«
»Es sind tapfere Leute«, bestätigte Vatrenus, »und in der ganzen Zeit, in der wir zusammengewesen sind, haben sie sich stets loyal verhalten. Sie verabscheuen die Barbaren wie wir und haben immer nur davon geträumt, ihre Freiheit wiederzuerlangen.«
»Habt ihr eine Familie?« fragte Aurelius.
»Ich hatte eine«, antwortete Demetrios, »eine Frau und zwei Töchter von vierzehn beziehungsweise sechzehn Jahren, aber ich weiß seit über fünf Jahren nichts mehr von ihnen. Sie haben in einem Dorf in der Nähe unseres Winterlagers gelebt. Während ich mit einer Erkundung auf dem Fluß beschäftigt war, errichteten die Alanen in der Nacht eine Bootsbrücke, überrumpelten unsere Angehörigen und metzelten sie nieder. Als ich zurückkehrte, fand ich im strömenden Regen nur Asche und Kohlereste vor, versunken in einem schwarzen Matsch. Und Leichen, Leichen, wohin man auch sah. Niemals werde ich diesen Anblick vergessen, und sollte ich hundert Jahre alt werden! Ich habe jede einzelne umgedreht, mit beklommenem Herzen, und erwartet, jeden Augenblick ein geliebtes Gesicht wiederzuerkennen ...« Er konnte nicht weitersprechen.
»Ich hatte eine Frau und eine Tochter«, begann Orosius. »Meine Gemahlin hieß Astcria und war ein Bild von einer - Frau. Eines Tages, als ich nach einem langen Feldzug in Moesia auf Urlaub nach Hause kam, fand ich meine Stadt von den Rugiern geplündert vor. Sie hatten sie verschleppt, alle beide. Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, diesen Stamm ausfindig zu machen, mein Kommandant entsandte einheimische Führer zu ihnen mit dem Angebot, sie freizukaufen, aber diese Unmenschen haben einen exorbitanten Preis verlangt, den ich niemals hätte bezahlen können. Sie sind genauso in der Weite ihrer Steppen verschwunden, wie sie gekommen waren ... Seither träume ich von nichts anderem, als mich wieder auf ihre Fährte zu setzen. Nachts, vor dem Einschlafen, überlege ich, wo sie sein könnten, unter welchem Himmel ... Ich frage mich, wie meine Schöne jetzt wohl aussieht ...« Er ließ den Kopf sinken und verstummte.
Es waren Geschichten, wie es sie in diesen Zeiten viele gab, aber Aurelius war trotzdem erschüttert. Er hatte niemals resigniert und niemals den Traum des Augustinus von Hippo von der Civitas Dei, der Stadt Gottes, geteilt, noch hatte er je zwischen den Wolken Himmelsstädte gesehen: Für ihn war die einzige Stadt Rom, die Stadt auf den sieben Hügeln, umgeben von der Aurelianischen Mauer, am göttlichen Tiber gelegen, die geschändete, aber trotzdem unsterbliche Urbs, die Mutter aller Länder und aller Länder Tochter, der Schrein heiligster Erinnerungen. Er fragte sie: »Und wo wollt ihr jetzt hin?«
»Wir können nirgends mehr hin«, antwortete Orosius.
»Wir haben nichts mehr. Und niemanden«, pflichtete ihm Demetrios bei. »Wenn ihr eine Aufgabe oder ein Ziel habt, dann nehmt uns bitte mit!«
Aurelius blickte Livia fragend an, und sie nickte. »Sie scheinen mir gute Soldaten zu sein«, sagte sie. »Und wir brauchen Männer.«
»Aber es ist nicht gesagt, daß sie bleiben wollen, wenn wir ihnen erst erzählen, was wir vorhaben.«