Paullinus seufzte, als hätte er diesen Einwand erwartet. »Das haben wir bereits versucht, aber Wortigern hat einen allzu hohen Preis verlangt, nämlich die Macht über ganz Britannien, die Auflösung der städtischen Versammlungen, die Abschaffung der alten Gerichtsbarkeit, die Schließung der Aulen des Senats, wo immer sie noch bestehen. Hier wäre, so fürchte ich, das Heilmittel schlimmer als die Krankheit, zumal die Städte, die sich bereits seiner Gewalt unterwerfen mußten, unter schrecklicher Tyrannei und schwerer Unterdrückung zu leiden haben. Wenn ich gezwungen bin, werde ich einen entsprechenden Beschluß fassen, aber erst, wenn ich wirklich keine andere Wahl mehr habe, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Außerdem...«
Er ließ den Satz unvollendet, als wage er nicht, noch mehr zu sagen, oder als wolle er es nicht. Doch ich glaubte, seinen unausgesprochenen Gedanken erraten zu können. »Außerdem«, fuhr ich an seiner Stelle fort, »bist du ein Römer vom Scheitel bis zur Sohle, der Sohn und Enkel von Römern, vielleicht der letzte deines Geschlechts, und ich kann dich verstehen, obwohl ich glaube, daß es unmöglich ist, die Zeit anzuhalten und das Rad der Geschichte zurückzudrehen.«
»Du irrst dich«, erwiderte Paullinus. »Daran habe ich nicht gedacht, obschon ich im Grunde meines Herzens immer noch davon träume, daß die römischen Adler eines Tages zurückkehren. Ich habe vielmehr an den Augenblick gedacht, als wir den tödlich verwundeten Germanus vom Schlachtfeld in den Wald von Gleva trugen, damit du seine Wunde behandeln konntest...«
»Ich erinnere mich gut an diesen Tag«, antwortete ich. »Aber ich konnte nicht viel tun.«
»Du hast genug getan«, sagte Paullinus. »Du hast ihm so viel Zeit gegeben, daß er von einem Priester die Letzte Ölung und die christliche Absolution empfangen und seine letzten Worte sprechen konnte.«
»Die nur du gehört hast. Er hat sie dir ins Ohr geflüstert, ehe er seinen letzten Atemzug tat.«
»Und die ich dir jetzt verraten möchte«, fuhr Paullinus fort. Er griff sich mit einer Hand an die Stirn, als wolle er die Stärke seines Erinnerungsvermögens und die Kräfte seines Geistes dort konzentrieren. Dann sagte er:
Veniet adulescens a man infero cum spatha Pax et prosperitas cum illo, Aquila et draco iterum volabunt Britanniae in terra lata.
»Das scheint mir der Text eines alten Volkslieds zu sein«, sagte ich nach einiger Überlegung. »Ein junger Krieger, der vom Meer her kommt und Frieden und Wohlstand bringt: Das ist ein sehr abgedroschenes Thema. In Zeiten des Hungers, des Krieges und der Entbehrung werden Lieder dieser Art oft populär.«
Aber es war offenkundig, daß sie für Cornelius Paullinus eine andere Bedeutung hatten. Er sagte: »Dies ist nur die scheinbare Bedeutung: Diese Worte, die als letzte aus dem Mund eines sterbenden Helden kamen, müssen einen anderen Sinn haben, einen tieferen und schwerwiegenderen, der für die Rettung dieses Landes und unser aller Heil von großer Bedeutung ist. Der Adler steht für Rom, und der Drache ist unser Symbol, das Feldzeichen der Legion Britanniens. Ich habe das Gefühl, daß sich alles klären wird, wenn du erst einmal in Italien und beim Kaiser angekommen bist. Geh, ich bitte dich, und führe deine Mission zu Ende.«
So eindringlich und beseelt waren seine Worte, daß ich akzeptierte, was er von mir verlangte, auch wenn dieser merkwürdige Vers in mir keine besondere Vision hervorgerufen hatte. Vor dem Senat von Carvetia, der unter der Leitung von Kustennin zu einer Vollversammlung zusammengetreten war, schwor ich, daß ich mit einem Heer zurückkehren würde, um unser Land ein für allemal von der barbarischen Gefahr zu befreien. Am nächsten Morgen brach ich auf, und bevor ich mit meinen Reisegefährten zum Hafen hinunterging, warf ich einen letzten Blick auf die Festung des Großen Walles, auf den roten Drachen, der vom höchsten Turm flatterte, auf die aufrechte Gestalt auf der Estrade, die in einen Umhang derselben Farbe gehüllt war. Dann verschwanden Cornelius Paullinus und seine Hoffnungen langsam hinter mir im Dunstschleier des Herbstmorgens.
Wir stachen bei günstigem Wind in See und gingen schon Ende Oktober in Gallien an Fand, aber von da an gestaltete sich unsere Reise so lang und mühselig, wie ich es vorhergesehen hatte. Einer meiner Reisegefährten erkrankte, nachdem er in das eiskalte Wasser eines Flusses gefallen war, und starb; ein zweiter verirrte sich, als wir während der Überquerung der Alpen in einen Schneesturm gerieten. Die beiden letzten fielen einem Hinterhalt zum Opfer, den uns eine Räuberbande in einem Wald gestellt hatte. Ich kam als einziger mit dem Leben davon, doch als ich in Ravenna eintraf, bemühte ich mich vergebens, vom Kaiser empfangen zu werden: Er war ein verweichlichter Einfaltspinsel in der Hand anderer Barbaren. Weder die Bitten noch das Fasten, zu denen mich Paullinus aufgefordert hatte, fruchteten. Am Ende jagten mich die Diener, meiner Anwesenheit überdrüssig, mit Stockhieben aus dem Atrium des Palastes.
Zermürbt vom langen Warten und Hungern ließ ich, von Verzweiflung gepackt, diese Stadt und ihre anmaßenden Menschen weit hinter mir. Ich zog von Dorf zu Dorf, bat die Bauern um Gastfreundschaft und bezahlte ein Stück trockenes Brot oder einen Becher Milch abwechselnd mit meiner Arbeit als Arzt oder Tierarzt, je nachdem, welcher meiner Berufe gerade gefragt war. Aber ohne Zweifel war ich in manchen Fällen eher motiviert, unschuldigen Fasttieren zum Überleben zu verhelfen, als stumpfsinnigen, brutalen Menschen.
Was war doch bloß aus dem edlen römischen Volk geworden! Das Land war von Straßenräuberbanden verseucht, und die Gehöfte bewohnt von armseligen Bauern, die durch unerträgliche Abgaben niedergedrückt wurden. Die Städte an den alten, ruhmreichen Konsularstraßen, die einstmals mächtige, turmbewehrte Festungsgürtel besessen hatten, waren jetzt nur noch Phantome mit verfallenden und halbzerstörten Mauern, aus deren Trümmern die dunklen Ranken des Efeus sprossen. Ausgemergelte Bettler auf den Schwellen der Häuser der Reichen rauften mit den Hunden um die Abfälle und übelriechenden Innereien geschlachteter Tiere. Auf den Hügeln wuchsen weder Wein noch die silberblättrigen Olivenbäume, von denen ich geträumt hatte, seit ich in meiner Kindheit in den Schulen Carve-tias die Gedichte von Horaz und Vergil gelesen hatte, und es gab auch keine weißen Rinder mit halbmondförmigen Hörnern, die die Pflüge zogen, um die Schollen umzudrehen; ebensowenig vervollständigte die feierliche, ausladende Geste des Sämanns dieses Bild. Nur struppige, verwilderte Hirten trieben Schaf- und Ziegenherden auf verdorrte Weiden oder Herden von Schweinen unter die Eichen und balgten sich oft mit den Tieren um die Eicheln, weil sie selbst so hungrig waren.
Worauf hatten wir bloß unsere Hoffnungen gestützt? Die Ordnung wurde - wenn dieser Ausdruck überhaupt angemessen ist - von Barbarentrupps aufrechterhalten, die bereits den größten Teil des kaiserlichen Heeres ausmachten und ihren eigenen Führern ergebener waren als den wenigen römischen Offizieren. Sie schikanierten das Volk viel mehr, als daß sie es beschützten. Das Reich war inzwischen nicht mehr als eine Larve, eine leere Hülle wie sein Kaiser, und diejenigen, die einst die Herren der Welt gewesen waren, ächzten nun unter der Knute ungehobelter und anmaßender Unterdrücker. Wie oft musterte ich diese verrohten Gesichter, diese schmutzigen Stirnen, triefend vom Schweiß der Unterwürfigkeit, während ich in ihnen die edlen Züge eines Cäsars und eines Manus oder den erhabenen Ausdruck von Cato oder Seneca zu entdecken suchte! Dennoch blitzte so plötzlich, wie mitten im Sturm ein Sonnenstrahl durch dichtes Gewölk dringt, und ohne irgendeinen ersichtlichen Grund, aus diesen Blicken gelegentlich die stolze Kühnheit der Vorfahren auf, und dies veranlaß-te mich zu glauben, daß vielleicht doch nicht alles verloren war.