In sämtlichen Städten und Dörfern hatte die Religion Christi triumphiert, und der gekreuzigte Gott blickte von Altären, aus Stein und Marmor gehauen, auf seine Gläubigen herab. Doch auf dem weiten Lande, verborgen und vom dichten Gehölz geradezu geschützt, erhoben sich noch immer die Tempel der alten Gottheiten der Vorväter. Unbekannte Hände legten vor den zerbrochenen und verstümmelten Bildnissen Opfergaben nieder, und manchmal erklangen im Dickicht der Wälder und von den Gipfeln der Berge Flötentöne und Trommelwirbel, um unbekannte Gläubige herbeizurufen, damit sie die Dryaden aus den Wäldern und die Nymphen aus den Bächen und Seen beschworen. In den abgelegensten Gegenden, in der Tiefe von Höhlen konnte mitten im duftenden Moos unerwartet das raubtierähnliche Bild eines Pan mit dem gespaltenen Huf und dem riesigen erigierten Phallus auftauchen - ein Zeugnis von Orgien, die weder vergessen noch abgeschafft waren.
Die Priester Christi predigten von seiner bevorstehenden Wiederkehr und seinem Jüngsten Gericht und ermahnten die Leute, vom Gedanken an die weltliche Stadt abzulassen, um den Blick und die Hoffnung einzig auf die Stadt Gottes zu richten. So starb Tag für Tag in den Herzen der römischen Menschen die Liebe zum Vaterland, verschwand der Kult der Ahnen und der heiligsten Erinnerungen, die nur noch den theoretischen Studien der Redner dienten.
Jahrelang war ich einzig und allein damit beschäftigt, von einem Tag zum anderen zu überleben, und vergaß den Grund, der mich ursprünglich so weit aus meinem eigenen Land getrieben hatte. Ich war mir vielmehr sicher, daß inzwischen auch dort oben, am Fuße des Großen Walls, alles in Ruinen lag, alles verloren war, die Freunde und Gefährten tot, erloschen die Hoffnung auf Freiheit und Würde und ein normales Leben. Mit welchem Geld und mit welchen Vorräten hätte ich tatsächlich eine Rückkehr versuchen können, wenn alles, was ich verdiente, kaum ausreichte, um meinen nagenden Hunger zu stillen? Ich hatte nur noch einen Wunsch -oder vielleicht war es bloß ein Traum -, nämlich Rom zu sehen! Trotz der grausamen Plünderung, die die Stadt mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor durch die Barbaren Alarichs erlitten hatte, war sie noch immer eine der schönsten Städte der Erde. Sie wurde jetzt zwar eher durch die Ägide des Pontifex geschützt als durch die halbzerstörte Aurelianische Mauer, aber immerhin trat dort noch in der alten Kurie der Senat zusammen, wenn es auch mehr darum ging, eine altehrwürdige Tradition aufrechtzuerhalten, als um wirkliche Entscheidungen, die ohnehin kaum noch in seinen Zuständigkeitsbereich fielen. So brach ich eines Tages in der Aufmachung eines christlichen Priesters auf, der einzigen vielleicht, die den Banditen und Dieben einen gewissen ehrfürchtigen Schrecken einjagte. Und auf dieser Reise über den Apennin geschah es, daß sich mein Los plötzlich so änderte, als habe sich das Schicksal unversehens an mich erinnert, als habe es bemerkt, daß ich noch am Leben war und in diesem trostlosen Landstrich, in diesem Land ohne Hoffnung, noch zu etwas von Nutzen sein könnte.
Es war an einem Abend im Oktober, die Dunkelheit brach gerade an, und ich bereitete einen Unterschlupf für die Nacht vor, indem ich unter einem Felsvorsprung trockene Blätter zu einem Nachtlager aufhäufte. Da kam es mir auf einmal so vor, als hätte ich aus der Tiefe des Waldes einen Klagelaut gehört. Ich dachte an den Schrei eines Nachttieres oder den Ruf der Eule, der so sehr an das Stöhnen eines Menschen erinnert, doch dann wurde mir schnell klar, daß es sich um das Wehklagen einer Frau handelte. Ich stand auf und folgte diesem Laut, indem ich so leicht und unsichtbar zwischen den Schatten des Waldes hindurchschlich, wie ich in meiner Jugend gelernt hatte, mich im heiligen Wald von Gleva zu bewegen. Plötzlich tauchte vor mir, inmitten einer Lichtung, ein Lager auf, das teils von römischen Soldaten, teils von Barbaren bewacht wurde, die aber alle auf römische Art und Weise ausgerüstet und postiert waren. In der Mitte des Lagers brannte ein Feuer, und eines der Zelte war von innen erhellt. Das Jammern kam von dort. Ich trat näher, und niemand hielt mich zurück, weil es mir in diesem Augenblick dank meiner alten Druidenkunst gelang, meinen Körper ganz dünn zu machen, ihn fast in einen der vielen Schatten der Nacht zu verwandeln, und als ich den Mund öffnete, stand ich bereits im Zelt, wo sich alle so verblüfft zu mir wandten, als wäre ich aus dem Nichts aufgetaucht. Mir gegenüber sah ich einen Mann von imposanter Erscheinung, dessen Gesicht von einem dunklen Bart eingerahmt war, welcher ihm das Aussehen eines alten Patriziers verlieh. Seine zusammengepreßten Kiefer und der Ausdruck seiner dunklen und tiefen Augen verrieten, welch große Angst sein Herz bedrückte. Neben ihm saß eine wunderschöne Frau heftig weinend an einem Bett, in dem ein anscheinend lebloses Kind von vielleicht vier oder fünf Jahren lag.
»Wer hat den Befehl gegeben, einen Priester zu rufen?« fragte der Mann und sah mich unverwandt an. An meinem schlichten Erscheinungsbild, an meinen schmutzigen und zerknitterten Kleidern war offensichtlich etwas Armseliges, vielleicht sogar etwas Verachtenswertes, das eher an einen Bettler als an einen Diener Gottes erinnerte.
»Ich bin kein Priester ... noch nicht«, antwortete ich. »Aber ich bin trotzdem ein Heilkundiger und kann vielleicht etwas für dieses Kind tun.«
Der Mann starrte mich mit einem Blick aus Feuer und Tränen an, und erwiderte: »Dieses Kind ist tot. Es war unser einziger Sohn.«
»Das glaube ich nicht«, antwortete ich. »Ich spüre noch einen Hauch Leben in diesem Zelt. Erlaubt, daß ich ihn untersuche.« Der Mann stimmte mit der Schicksalsergebenheit des Verzweifelten zu, während die Frau einen Blick voller Staunen und Hoffnung auf mich richtete.
»Laßt mich mit ihm allein, und ich werde ihn euch, wenn auch nur die geringste Chance besteht, vor dem Morgengrauen zurückgeben«, sagte ich und wunderte mich selbst über meine Worte. Ich begriff tatsächlich selbst nicht, warum ich ausgerechnet an diesem einsamen Ort im Grunde meiner Seele spürte, wie sich die alte Wissenschaft und die römische Gelehrsamkeit mit dem Erbe der druidischen Kräfte zu einem einzigen Bündel wunderbarer Energie und ruhigen Bewußtseins vereinigten und sich neu belebten. Es war, als hätte ich über all diese Jahre gelebt und dabei mich selbst und meine Würde vergessen, und als wäre mir nun plötzlich bewußt geworden, daß ich den blutleeren Wangen dieses Geschöpfes wieder Farbe verleihen und in die Augen, die unter den geschlossenen Lidern schon erloschen schienen, wieder Licht bringen konnte. Ich erkannte die eindeutigen Anzeichen einer Vergiftung, konnte aber nicht feststellen, wie weit der Prozeß bereits fortgeschritten war. Der Mann zögerte, aber die Frau überzeugte ihn. Sie zog ihn am Arm hinaus und flüsterte ihm dabei etwas ins Ohr. Sie meinte wohl, daß ich dem Kind nichts Schlimmeres zufügen könnte als das, was die Krankheit, von der sie es befallen wähnte, ohnehin schon angerichtet hatte.
Ich öffnete meinen Quersack und überprüfte den Inhalt. In all diesen Jahren hatte ich meine Medikamentenvorräte niemals ausgehen lassen und während der entsprechenden Jahreszeiten immer Kräuter und Wurzeln gesammelt und sie nach den Vorschriften behandelt, so daß ich sie jetzt in einer Pfanne mit Wasser aufwärmen und einen wirksamen Aufguß zubereiten konnte, der imstande war, den bereits fast völlig erschlafften Organismus des Kindes reagieren zu lassen. Ich erwärmte ein paar Steine, wickelte sie in saubere Tücher und legte sie um seinen kalten Körper. Dann füllte ich heißes, fast kochendes Wasser in einen Schlauch, den ich dem Knaben auf die Brust legte; denn bevor ich das Brechmittel verabreichte, mußte ich in diesem Körper ein Minimum an Leben wecken. Als ich auf seiner bläulichen Haut kleine Schweißperlchen austreten sah, flößte ich ihm langsam den Aufguß in Mund und Nase und bemerkte sofort eine Reaktion, ein fast unmerkliches Zusammenziehen der kleinen Nasenlöcher.