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Draußen war die Welt in tiefem Schweigen versunken, nicht einmal das Weinen der Mutter war zu hören: Hatte sich diese stolze, schöne Frau vielleicht mit diesem so herben Verlust abgefunden? Ich träufelte dem Kind noch ein paar weitere Tropfen ein, sah, daß es immer stärker reagierte, und stellte sogleich eine sichtbare Kontraktion seines Bauches fest. Dann preßte ich die Hände kräftig auf seinen Magen, und der Kleine erbrach sich - eine grünliche, übelriechende Flüssigkeit, die keinen Zweifel mehr zuließ. Ich flößte ihm noch etwas von dem Brechmittel ein, und es folgten weitere Kontraktionen und dann eine größere Anstrengung, und er erbrach sich noch einmal; darauf folgten weitere Konvulsionen. Schließlich streckte sich der Kleine erschöpft aus, und ich entkleidete ihn, wusch ihn und bedeckte ihn mit einem frischen, sauberen Tuch. Er war schweißgebadet, aber jetzt atmete er, und sein Puls wurde mit jedem mühsamen Schlag, der in meinen Ohren lauter und triumphaler klang als ein Trommelwirbel, gleichmäßiger. Ich untersuchte den Inhalt seines Magens und sah mich in meinen Vermutungen voll bestätigt. Dann trat ich aus dem Zelt und fand mich den Eltern gegenüber. Sie saßen auf zwei Schemeln am Lagerfeuer, und von ihren Augen war eine große Erregung abzulesen. Sie hatten die Würgegeräusche gehört und wußten, daß es untrügliche Lebenszeichen waren, hatten aber ihr Wort gehalten und mich weiterhin mit ihrem Kind allein gelassen.

»Er wird überleben«, sagte ich mit absichtlich sanftem Nachdruck. Und fügte sofort hinzu: »Er ist vergiftet worden.«

Die beiden stürzten in das Zelt, und man hörte das glückliche Schluchzen der Mutter, die ihr Kind in die Arme schloß. Ich machte mich auf den Weg zum Ende des Lagers, zum Biwak der Wachen, um in einem Augenblick so starker und intimer Gefühle nicht zu stören, doch eine energische Stimme hielt mich zurück. Es war er, der Vater.

»Wer bist du?« fragte er. Ich drehte mich um und sah, wie er mich anstarrte. »Wie bist du in mein Zelt gelangt, das von bewaffneten Männern bewacht wird? Und wie hast du meinen Sohn ins Leben zurückgeholt? Bist du etwa ... ein Heiliger oder ein Engel des Himmels? Oder bist du vielleicht ein Geist des Waldes? Sag es mir, ich bitte dich!«

»Ich bin nur ein Mensch, der über einige Kenntnisse in der Heilkunde und in den Naturwissenschaften verfügt.«

»Wir verdanken dir das Leben unseres einzigen Sohnes, und dafür gibt es auf dieser Erde keinen angemessenen Lohn. Aber äußere eine Bitte, und du wirst, sofern es in meiner Macht steht, eine Belohnung erhalten.«

»Eine warme Mahlzeit und ein Brot für meine Reise morgen sind genug«, antwortete ich. »Der größte Lohn für mich ist ohnehin zu erleben, daß dieses Kind wieder atmet.«

» Wohin gehst du ?« fragte er mich.

»Nach Rom. Die Urbs und ihre Wunderwerke zu sehen, ist immer schon der Traum meines Lebens gewesen.«

»Auch wir sind auf dem Weg nach Rom. Also bitte ich dich, bleibe bei uns! So wird deine Reise gefahrlos verlaufen, und sowohl ich als auch meine Frau hoffen innig, daß du für immer bei uns bleiben und dich unseres Sohnes annehmen wirst. Er wird einen Lehrer brauchen, und wer könnte ihm besser helfen als du, ein Mann von so großer Gelehrsamkeit und mit einer solchen Wunderkraft?«

Das war es, was ich zu hören gehofft hatte, aber ich erwiderte, daß ich erst darüber nachdenken und ihnen nach unserer Ankunft in Rom eine Antwort geben würde. In der Zwischenzeit würde ich mich bemühen, dem Kind zu vollständiger Genesung zu verhelfen, aber er, der Vater, müsse den Mörder ausfindig machen, jenen Mann, der ihn so sehr haßte, daß er bereit war, ein unschuldiges Kind zu vergiften.

Ihm schien eine plötzliche Erkenntnis gekommen zu sein, und er erwiderte: »Das ist meine Angelegenheit. Der Verantwortliche wird nicht ungestraft davonkommen. Doch was dich anbelangt, so nimm unterdessen meine Gastfreundschaft und meine Speisen an und ruhe dich für den Rest der Nacht aus. Das hast du dir verdient.«

Er sagte, er heiße Orestes und sei Offizier der kaiserlichen Armee, und während wir noch sprachen, trat seine Gemahlin hinzu, Flavia Serena, die, von Gefühlen überwältigt, sogar nach meiner Hand griff, um sie zu küssen. Eilends zog ich sie zurück und beugte mich meinerseits zu ihr, um ihr meine Ehrerbietung zu bezeigen. Sie war die schönste und vornehmste Dame, die ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Nicht einmal die Angst vor dem Verlust ihres Kindes hatte die Harmonie ihrer aristokratischen Gesichtszüge beeinträchtigt, noch den Glanz ihrer bernsteinfarbenen Augen getrübt, sondern ihm nur die Tiefe des Schmerzes und der Sorge hinzugefügt. Ihre Haltung war stolz, aber ihr Blick sanft wie ein Sonnenuntergang im Frühling; ihre reine Stirn war mit einem Zopf dunkler, violett schimmernder Haare bekränzt, ihre Finger lang und schmal, die Haut alabasterweiß. Unter ihrem Gewand aus leichter Wolle betonte ein samtener Gürtel ihre Figur, und ihren Hals schmückte eine silberne Kette, an der nur eine einzige schwarze Perle hing. In meinem ganzen Leben hatte ich noch kein Geschöpf von so betörender Schönheit gesehen, und von dem Augenblick an, da ich sie zum ersten Mal erblickt hatte, wußte ich, daß ich ihr für den Rest meiner Tage treu ergeben sein würde, was für ein Schicksal auch immer die Zukunft für uns bereithalten würde.

Ich verabschiedete mich mit einer tiefen Verneigung von ihr und bat um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen: Ich war müde und fühlte mich mitgenommen und hatte bei dem siegreichen Zweikampf mit dem Tod meine ganzen Energien verbraucht. Ich wurde zu einem Zelt geleitet und machte es mir dort auf einem Feldbett bequem, aber die Stunden, die uns noch vom Morgengrauen trennten, verbrachte ich in einem Zustand dumpfer Lethargie, die nur von den herzzerreißenden Schreien eines gefolterten Mannes unterbrochen wurde. Es mußte der Mann gewesen sein, den Orestes als Giftmörder verdächtigte. Am nächsten Morgen fragte ich nicht nach und wollte auch nichts weiter wissen, weil ich schon genug wußte: Der Vater dieses Kindes war gewiß ein sehr mächtiger Mann, wenn er sich so erbitterte Feinde geschaffen hatte, daß sie sogar seinem kleinen Sohn nach dem Leben trachteten.

Als wir aufbrachen, ließen wir den zerfleischten Leichnam eines an einen Baumstamm gebundenen Mannes zurück. Noch vor dem Abend würden die Tiere des Waldes von ihm nur das Skelett übriglassen.

So wurde ich der Erzieher dieses Kindes und ein Mitglied der Familie und verbrachte mehrere Jahre in beneidenswerten Verhältnissen: Ich wohnte in prachtvollen Palästen, begegnete wichtigen Persönlichkeiten, widmete mich meinen bevorzugten Studien und meinen Experimenten auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und vergaß darüber fast vollständig die Mission, deretwegen ich vor so langer Zeit nach Italien gekommen war. Orestes war oft abwesend und mit risikoreichen Feldzügen befaßt, und wenn er zurückkam, dann in Begleitung der Barbarenführer, die die Einheiten des Heeres befehligten. Die Zahl der römischen Offiziere nahm von Jahr zu Jahr ab. Die besten Vertreter der Aristokratie zogen es mittlerweile vor, Mitglieder des christlichen Klerus zu werden, und betätigten sich lieber als Seelenhirten denn als Heerführer. Das hatte für Ambrosius gegolten, der zu Kaiser Theodosius' Zeiten eine glänzende Laufbahn beim Militär aufgegeben hatte, um Bischof von Mailand zu werden, und so war es im Fall von Germanus gewesen, unserem Feldherrn in Britannien, der am Ende das Schwert gegen den Bischofsstab getauscht hatte.