Orestes aber war aus anderem Holz geschnitzt: Im Laufe der Zeit erfuhr ich, daß er in seinen jungen Jahren im Dienste von Attila, dem Hunnen, gestanden und sich durch seine Klugheit und seine Intelligenz ausgezeichnet hatte. Es gab keinen Zweifel, daß er die höchste Macht anstrebte.
Er schätzte mich sehr und bat mich nicht selten auch um meinen Rat, aber meine Hauptaufgabe blieb die Erziehung seines Sohnes Romulus. Er übertrug mir fast die väterlichen Vollmachten, da er so sehr mit dem Aufstieg zu den obersten Sprossen der militärischen Karriereleiter beschäftigt war. Bis er eines Tages den Titel eines Patriziers des römischen Volkes und das Oberkommando über die kaiserliche Armee erhielt.
Da traf er eine Entscheidung, die sich tiefgreifend auf unser aller Leben auswirken und in gewisser Weise eine neue Ära einleiten sollte.
In jenem Jahr regierte Kaiser Julius Nepos, ein schwacher und unfähiger Mann, der aber gute Beziehungen zum Kaiser des Ostreiches, Zenon, unterhielt. Orestes beschloß, Julius Nepos abzusetzen und sich selbst des kaiserlichen Purpurs zu bemächtigen. Er unterrichtete mich von seinem Entschluß und fragte mich, was ich davon hielte. Ich antwortete, daß es ein Wahnsinn sei, und inwiefern sich, seiner Meinung nach, sein Schicksal von dem der letzten Kaiser unterscheiden werde, die sich einer nach dem anderen auf dem Cäsarenthron abgelöst hatten? Und welch entsetzlichen Gefahren er seine Familie aussetzen werde?
»Dieses Mal wird es anders sein«, erwiderte er, und mehr wollte er mir nicht sagen.
»Und wie kannst du dir der Treue dieser Barbaren sicher sein? Alles, was die wollen, sind doch nur Geld und Ländereien: Solange du imstande sein wirst, sie ihnen zu geben, werden sie dir folgen. Wenn du sie aber nicht länger bereichern kannst, werden sie einen anderen wählen, der mehr Geld hat und ihre Forderungen und ihre unstillbare Gier besser befriedigen kann.«
»Hast du je über die Legio Nova Invicta reden hören?« fragte er mich.
»Nein. Die Legionen sind vor geraumer Zeit abgeschafft worden. Du weißt sehr wohl, mein Herr, daß sich die Militärtechnik in den letzten hundert Jahren in bedeutendem Maße fortentwickelt hat.« Aber ich dachte an die Aufstellung der Legion, die Germanus vor seinem Tod am Hadrianswall geplant hatte, um die Festung des Mons Badonicus zu verteidigen und die inzwischen vielleicht überhaupt nicht mehr existierte.
»Du irrst dich«, entgegnete mir Orestes. »Die Nova Invicta ist eine Elitetruppe, die nur aus Italern und Leuten aus den Provinzen des Römischen Reiches besteht. Ich habe sie in aller Heimlichkeit neu formiert und halte sie seit Jahren bereit, und zwar unter dem Kommando eines untadeligen Mannes mit großen bürgerlichen und militärischen Tugenden. In diesem Augenblick rückt sie in Gewaltmärschen heran, und schon bald werden die Soldaten unweit von unserer Residenz in der Emilia ihr Lager aufschlagen. Doch das ist nicht die einzige Neuigkeit, denn nicht ich werde der neue Kaiser sein.«
Ich sah ihn verblüfft an, während mir etwas Furchtbares dämmerte. »Nein?« fragte ich. »Wer dann?«
»Mein Sohn«, erwiderte er, »mein Sohn Romulus, der auch den Titel Augustus annehmen wird. Er wird die Namen des ersten Königs und des ersten Kaisers von Rom tragen. Und ich werde ihm den Rücken freihalten, indem ich Oberkommandant der kaiserlichen Armee bleibe. Nichts und niemand wird ihm Schaden zufügen können.«
Ich sagte nichts, weil alles sinnlos gewesen wäre, was ich auch eingewandt hätte. Er hatte sich bereits entschieden, und durch nichts hätte er sich von seinem Vorhaben abbringen lassen. Er schien sich nicht einmal klarzumachen, daß er seinen Sohn, meinen Schützling, meinen Jungen, einer tödlichen Gefahr aussetzte.
In jener Nacht ging ich spät zu Bett und lag lange mit offenen Augen da, ohne Schlaf zu finden. Zu viele Gedanken stürmten auf mich ein, und ich sah auch diese Männer, die in Gewaltmärschen anrückten, um einen kindlichen Kaiser zu beschützen. Legionäre der letzten Legion, die aufgerufen waren, für das Schicksal des letzten Kaisers ein letztes Opfer zu bringen ...
Die Geschichte endete hier, und Romulus hob den Kopf und klappte das Buch wieder zu. Vor ihm stand Ambrosinus. »Eine interessante Lektüre, nehme ich an. Ich rufe dich schon seit einer ganzen Weile, und du geruhst nicht einmal, mir zu antworten. Das Abendessen ist fertig.«
»Verzeih mir, Ambrosinus, ich habe dich nicht gehört. Ich habe gesehen, daß du dein Buch hier liegengelassen hast, und gedacht ...«
»Darin steht nichts, was du nicht lesen dürftest. Komm, wir gehen.«
Romulus klemmte sich das Buch unter den Arm und folgte seinem Lehrer in den Speisesaal. »Ambrosinus ...«, sagte er plötzlich.
»Ja?«
»Was bedeutet diese Prophezeiung?«
»Na, dieser Text ist bestimmt nicht schwer zu verstehen.«
»Nein, wirklich nicht, aber ...«
»Sie bedeutet:
>Ein junger Mann wird über das südliche Meer kommen, mit einem Schwert und Frieden und Wohlstand bringen. Dann werden der Adler und der Drache wieder Über dem großen Land Britannien wehen.<
Das ist eine Weissagung, Cäsar, und wie alle Weissagungen schwer zu interpretieren, aber sie kann die Herzen jener Menschen anrühren, die Gott auserwählt hat, damit sie seine unergründlichen Ratschlüsse in die Tat umsetzen.«
»Ambrosinus ...«, setzte Romulus noch einmal an.
»Ja?«
»Du ... hast du meine Mutter geliebt?«
Der betagte Lehrer senkte den kahlen Kopf und nickte ernst. »Ja, ich habe sie geliebt. Mit einer demütigen und ergebenen Liebe, die ich nicht einmal mir selbst eingestanden hätte, aber für die ich in jedem Augenblick bereit gewesen wäre, mein Leben hinzugeben.«
Er sah den Jungen wieder an, und seine Augen glühten wie Kohlen, als er sagte: »Wer sie umgebracht hat, wird dafür mit einem grauenhaften Tod bezahlen. Das schwöre ich.«
XV
Ambrosinus war verschwunden. Vor einiger Zeit hatte er damit begonnen, die weniger bekannten Teile der Villa zu erkunden, insbesondere alte, nicht mehr bewohnte Räume, in denen seine schier unersättliche Neugier mit einer Unmenge verschiedenster Objekte befriedigt wurde, die für ihn alle von außergewöhnlichem Interesse waren: Wandmalereien, Statuen, Archivalien, Labormaterial, Werkzeuge von Schreinern und Zimmerleuten. Außerdem verbrachte er seine Zeit damit, alte, seit undenklichen Zeiten nicht mehr benutzte Gebrauchsgegenstände zu reparieren, wie etwa die Mühle oder die Esse, den Backofen und die Latrine mit der Wasserspülung.
Die Barbaren betrachteten ihn inzwischen als eine Art exzentrischen Spinner, und wenn er vorbeikam, lachten oder spotteten sie über ihn. Alle, bis auf einen: Wulfila. Er war sich der Intelligenz des Alten zu sehr bewußt, um ihn zu unterschätzen. Er ließ ihn zwar im Inneren der Villa frei herumlaufen, aber er gestattete ihm nicht, den äußeren Mauergürtel zu verlassen, es sei denn, unter strengster Bewachung.
Romulus glaubte, Ambrosinus habe an jenem Tag vergessen, ihm seinen Griechischunterricht zu erteilen, weil er mit irgendeiner besonders anspruchsvollen Tätigkeit beschäftigt war; deshalb ging er zum unteren, in den Abhang gebauten Teil der Villa hinunter. Dort gab es nur sehr wenige Wachen, weil die Mauer hoch und von unten her ohne Zugang war und außen direkt auf einen steilen Absturz blickte. Es war ein Tag Ende November, frisch, aber so klar, daß man in der Ferne die Ruinen des Athenaions von Surrentum und am Ende des Golfs den Vesuv sah, der sich rostrot vorn tiefen Blau des Himmels abhob. Das einzige Geräusch war das seiner Schritte auf den Fliesen des Fußbodens und das Rauschen des Windes in den Pinien und den uralten Steineichen. Ein Rotkehlchen ließ auf seinem Flug ganz leicht die Flügel schwirren, und eine leuchtend grüne Smaragdeidechse flitzte davon, um sich in einer Mauerritze zu verkriechen: Diese kleine Welt begrüßte ihn, wenn er vorbeikam, mit einem kaum wahrnehmbaren Raunen.