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Seit dem Morgen hallten die Unterkünfte der Soldaten vom Lärm wider, den die Ankunft einer Ladung Prostituierten ausgelöst und ihn am Schlafen gehindert hatte, doch trotz der Schlaflosigkeit fühlte sich der Junge nicht müde: Es konnte keine Müdigkeit geben, wenn es keine Aktivität, keine Pläne, keine Perspektiven und keine Zukunft gab. Im Augenblick litt er nicht besonders, aber er freute sich auch über nichts, da es weder für das eine noch für das andere Anlaß gab. Doch bei der Begegnung mit der Welt um ihn herum bebte sein Herz unsinniger- und überflüssigerweise wie ein Spinnennetz im Wind. Diese reine Luft, dieser ruhige Atem der Natur waren so angenehm, daß Romulus leise ein Kinderliedchen vor sich hin trällerte, an das er sich, wer weiß warum, just in diesem Augenblick erinnerte.

Er glaubte, sich am Ende an seinen Käfig zu gewöhnen, so, wie man sich an alles gewöhnt, und daß sein Schicksal im Grunde nicht schlimmer war als das so vieler anderer Menschen. Gab es da unten, auf dem Festland, etwa keine Metzeleien, keine Kriege, keine Not, keine Invasionen und keinen Hunger? Er versuchte, es sich zur Gewohnheit zu machen, Wulfilas Anwesenheit zu ignorieren, sein Bild auszulöschen, das einzige Element, das imstande war, die Trägheit und Lethargie seines Herzens zu erschüttern und in seinem Geist schmerzliche Verwirrungen auszulösen, einen Zorn, den er nicht am Leben erhalten durfte, eine ungerechtfertigte Angst, ein beklemmendes Gefühl der Schmach, ebenso lästig wie unausweichlich.

Plötzlich verspürte er auf seinem Gesicht etwas Merkwürdiges: einen starken, konzentrierten Luftstrahl, der nach Moos und im Verborgenen tröpfelndem Wasser roch. Romulus blickte sich um, sah aber nichts. Er war schon im Begriff weiterzugehen, als er erneut dieses klare, tiefdringende Gefühl verspürte, begleitet von einem kaum merklichen Säuseln. Und plötzlich wurde ihm bewußt, daß es von unten, aus den Öffnungen eines tönernen Gitters über dem Regenwasserabfluß kam. Vorsichtig blickte er sich um: Niemand war zu sehen. Dann nahm er aus seiner Schultasche, die er über der Schulter trug, einen Griffel, kniete sich nieder und begann, damit rund um das Gitter, aus dem nach wie vor dieser langgezogene Seufzlaut aufstieg, zu schaben. Als er mit dem Säubern fertig war, nahm er ein Stöckchen als Hebel, hob das Gitter hoch und stellte es auf den Fliesenboden. Er schaute sich noch einmal um, steckte dann den Kopf in die Öffnung und sah sich mit einem frappierenden Anblick konfrontiert, der noch schwindelerregender war, weil er sich ihm kopfüber darbot: Unter ihm öffnete sich ein großer Geheimgang, ausgeschmückt mit Fresken und Grotesken, der in das Innere des Berges führte.

Eine der Seitenwände war eingestürzt, so daß eine Art Rutsche entstanden war, die es gestattete, leicht auf den Grund des Ganges zu gelangen. Romulus stieg hinein, schob das Gitter über seinem Kopf wieder an Ort und Stelle, und kletterte ohne allzu große Schwierigkeiten bis zum Boden hinunter, wo sich seinen Augen ein neues, traumhaftes Spektakel darbot: Von oben fiel ein ganzes Bündel leuchtender Strahlen durch das Abflußgitter herein und beleuchtete einen langen gepflasterten Wandelgang, der beiderseits mit einer langen Reihe von Statuen gesäumt war. Verblüfft und verwundert bewegte sich der Junge zwischen jenen Männern mit den bebilderten Brustpanzern, deren Gesichter vom veränderlichen Licht, das von oben einfiel, betont wurden, und auf jedem Marmorsockel fand er die dazugehörigen Unternehmungen, die Ehrentitel und die Siege über die Feinde eingemeißelt: Es waren die Statuen der römischen Kaiser!

Bei jedem Schritt fühlte sich Romulus von diesem enormen Gewicht der Geschichte überwältigt, von dem grandiosen Erbe, das er auf seinen zarten Schultern lasten fühlte. Langsam ging er weiter und las die Inschriften und wiederholte dabei die folgenden Titel und Namen: »Flavius Claudius Julianus, Wiederhersteller der Welt, Verteidiger des Reiches ...; Lucius Septimius Severus, Particus Maximus, Germanicus, Particus Adiabenicus, Pontifex Maximus ...; Marcus Aurelius Antoninus, Pius Felix, semper Augustus, Pontifex Maximus, sechsmal Tribun des Volkes ...; Titus Flavius Vespasia-nus, Augustus; Claudius Tiberius Drusus Cäsar, Britannicus; Tibe-rius Nero Cäsar, Germanicus, Vater des Vaterlandes, Pontifex Maximus; Augustus Cäsar, Sohn des göttlichen Julius, Pontifex Maximus, siebenmaliger Konsul ...«

Eine dünne Staubschicht hatte sich auf diese imponierenden Bildnisse gelegt, auf die Augenbrauen, auf die tiefen Falten, die ihre Stirnen durchfurchten, auf die Waffen und Verzierungen, doch keine dieser Statuen wies irgendwelche Schrammen oder Verstümmelungen auf. Dieser Ort mußte eine Art Gedenkstätte sein, heimlich geschaffen, wer weiß von wem, vielleicht von Julianus, dem die Christen den Schmähnamen Apostata, der Abtrünnige, angehängt hatten und der mit seinem eigenen verdrießlich und melancholisch dreinblickenden Bildnis diese lange Reihe der Beherrscher der Welt eröffnete.

Jetzt befand sich Romulus, vor Aufregung und Staunen bebend, vor der Nordwand des Geheimgangs und hatte eine Platte aus grünem Marmor vor sich, die in der Mitte mit einem Lorbeerkranz in Goldbronzerelief verziert war. In dessen Inneren prangte in Großbuchstaben folgende Inschrift:

CAIVS IVLIVS CAESAR

Und darunter, in Kursivschrift, eine sibyllinische Wendung: quin-decim caesus, die Romulus leise wiederholte: »Fünfzehn mal getroffen.« Was sollte das bedeuten? Cäsar war, wie er oft genug in den Geschichtsbüchern gelesen hatte, von dreiundzwanzig Dolchstichen getroffen worden, nicht von fünfzehn Und warum sollte ausgerechnet in einer verherrlichenden Inschrift, in einem eindrucksvollen Epigraph aus kostbarem Marmor, aus Gold und Bronze, die traurige Erinnerung an die Iden des März und an die Ermordung des größten aller Römer heraufbeschworen werden?

Doch was konnte die Zahl sonst noch bedeuten? In diesem Augenblick entsann er sich plötzlich der vielen Gedankenspiele mit Akrostichen und Rätseln, die ihm sein Lehrer tausendmal zur Schärfung seines Verstandes sowie zum Zeitvertreib empfohlen hatte. Romulus' Blick nahm die Buchstaben der Reihe nach ins Visier, las sie von vorne nach hinten und umgekehrt; es mußte einen Schlüssel geben, sonst hätte die Zahl keinen Sinn.

Von außen drang kein Geräusch herein außer dem Gezwitscher der Sperlinge, und in dieser leeren und schwebenden Atmosphäre ging der Junge im Geiste fieberhaft sämtliche möglichen Kombinationen durch, um eine Lösung zu finden. Doch ihm wurde recht bald klar, daß jemand seine Abwesenheit bemerken und Ambrosinus in Gefahr geraten könnte, wenn in der Villa ein Tumult ausbräche. Die aufsteigende Angst stachelte seinen Verstand zu Höchstleistungen an, aber plötzlich hielt sein Denken inne, setzte sich wie ein Schmetterling auf diese Inschrift und zerlegte sie in eine Abfolge von Zahlen, die die Summe fünfzehn ergaben. Das heißt die Summe aus V, V, V: die drei V aus Goldbronze, die in den Worten CAIVS IVLIVS vorkamen, während der folgende Ausdruck nicht zufällig kursiv geschrieben war, wo das u nicht wie in der Großbuchstabenschrift mit einem V gleichgesetzt werden konnte. Ja, das mußte die Lösung sein! Er drückte mit zitternder Hand und in ständiger Folge die drei V, die leicht nachgaben, aber es passierte nichts. Er seufzte resigniert und wandte sich um, um dorthin zurückzukehren, von wo er gekommen war, als ihm eine neue Idee durch den Kopf schoß: Die drei geschriebenen V ergaben, miteinander addiert - und nicht hintereinander gelesen - , die Summe fünfzehn, quinde-cim. Er kehrte um und drückte gleichzeitig auf die drei V in den Worten CAIVS IVLIVS. Die Buchstaben gaben nach, und sofort hörte man ein metallisch klingendes Schnappen, das Geräusch eines Gegengewichts, das Knirschen einer Winde, und unmittelbar darauf entwich an den Rändern der Platte ein Lufthauch: Der große Stein drehte sich, und eine Öffnung tat sich auf!