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»Er wird es tun, und seine Macht wird dem Auserwählten ein unmißverständliches Zeichen geben. Aber jetzt hör auf, deine Zeit mit den Ameisen zu verschwenden! Geh lieber zurück in die Bibliothek und lerne etwas! Heute wirst du die ersten beiden Bücher der Aeneis kommentieren.«

Romulus zuckte die Achseln. »Alte, nutzlose Geschichten.«

»Keineswegs! Vergil berichtet von den Geschicken des Helden Aeneas und seines Sohnes Iulus, der ein Junge war wie du und zum Stammvater der größten Nation aller Zeiten wurde. Sie waren Flüchtlinge, Verzweifelte, und dennoch gelang es ihnen, sich wieder aufzurichten und den Mut und die Willenskraft aufzubringen, für sich und ihre Leute eine neue Existenz aufzubauen.«

»In den Mythen ist alles möglich. Aber die Vergangenheit ist vergangen und kommt nicht wieder.«

»Wirklich? Warum bewahrst du dann eigentlich dieses Schwert unter deinem Bett auf? Ist es etwa kein Relikt einer alten, nutzlosen Geschichte?« Ambrosinus warf einen Blick auf die Sonnenuhr in der Mitte des Hofes und schien sich plötzlich an irgend etwas zu erinnern. Abrupt drehte er sich um, überquerte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, den Hof und verschwand im Schatten des Portikus. Wenige Augenblicke später sah Romulus, wie er eine Treppe hinaufstieg, die zur Brüstung der zum Meer hinunterblickenden Terrasse führte, und dort aufrecht und reglos stehenblieb, während der Wind ihm die grauen Haare unterhalb der Glatze zerzauste.

Der Junge stand auf und ging in Richtung Bibliothek, doch ehe er eintrat, warf er noch einen letzten Blick auf Ambrosinus, der sich jetzt ganz auf eine seiner üblichen Beobachtungen zu konzentrieren schien. Er schaute nach vorn und schrieb gleichzeitig mit dem Griffel etwas in sein obligates Notizbuch. Vielleicht studierte er die Bewegung der Wellen oder den Wanderzug der Vögel oder den Rauch, der seit einigen Tagen, immer dichter werdend und von bedrohlichem Raunen begleitet, aus dem Krater des Vesuvs aufstieg.

Romulus schüttelte den Kopf und trat zur Tür der Bibliothek, um hineinzugehen, doch just in diesem Augenblick winkte ihn Ambrosinus zu sich. Er gehorchte und lief zu seinem Lehrer, der ihn wortlos empfing und ihm einfach nur einen Punkt mitten im Meer zeigte. Vor ihnen wiegte sich, durch die Entfernung verkleinert, ein Fischerboot, eine Nußschale auf der blauen Fläche.

»Jetzt erkläre ich dir ein interessantes Spiel«, sagte Ambrosinus. Aus den Falten seines Gewandes zog er einen stark glänzenden Bronzespiegel hervor, drehte ihn zur Sonne und warf einen kleinen leuchtenden Flatterpunkt auf die Wellen in der Nähe des Bootes und dann mit beeindruckender Präzision auf den Bug und auf das Segel. Gleich darauf begann er, mit dem Handgelenk schnelle und geübte Bewegungen auszuführen und ließ den kleinen Leuchtpunkt auf dem Deck des Bootes bald auftauchen, bald wieder verschwinden.

»Was machst du denn da?« fragte Romulus verdutzt. »Darf ich das auch einmal probieren?«

»Lieber nicht! Ich unterhalte mich mit den Leuten auf diesem Schiff mit Hilfe von Lichtsignalen - ein System, das notae tironianae genannt wird. Einer von Ciceros Sklaven hat es vor fünfhundert Jahren erfunden. Anfangs diente es nur dazu, schnell Diktate aufzunehmen; später wurde es dann in einen Kommunikationskode für das Militär umfunktioniert.«

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als vom Boot her mit einem entsprechend blinkenden Signal geantwortet wurde.

»Was sagen sie?«

»Sie sagen: >Wir kommen euch holen. An den Nonen des Dezembers^ Das heißt ... in genau drei Tagen. Ich habe dir doch gleich gesagt, daß sie uns nicht im Stich lassen werden und daß man die Hoffnung nie aufgeben darf.«

»Du machst dich doch nicht etwa über mich lustig ...?« fragte Ro-mulus verunsichert. Ambrosinus nahm ihn in die Arme. »Es ist wahr«, antwortete er mit zitternder Stimme. »Es ist wahr, endlich!«

Romulus gelang es nur mühsam, seine Gefühle zu beherrschen. Er wollte sich nicht auf diese neue Hoffnung einlassen aus Angst, noch einmal enttäuscht zu werden. So fragte er lediglich: »Wie lange geht das schon so?«

»Ein paar Wochen. Wir hatten einiges zu besprechen.«

»Und wer hat damit angefangen?«

»Sie. Sie haben mir über einen der Diener, die zum Hafen hinuntergehen, um dort einzukaufen, eine Botschaft zukommen lassen, und so habe ich mich mit meinem sorgfältig polierten Spiegel zu einem Rendezvous eingefunden. Es war schön, endlich wieder einmal mit jemandem von außerhalb zu plaudern.«

»Und du hast mir nichts davon gesagt ...«

Romulus blickte seinen Erzieher bestürzt an. Dieser lächelte und blinzelte zuerst ihn an und dann das kleine Schiff in der Ferne. Vor Romulus' Augen wurde der Dialog mittels der Leuchtsignale wieder aufgenommen und nur unterbrochen, wenn das Geräusch von Schritten die Ankunft der Wachen ankündigte, die ihre Runde drehten. Ambrosinus nahm ihn bei der Hand, und sie stiegen zusammen die Treppe hinunter und gingen in die Bibliothek.

»Ich wollte dich nicht noch einmal ohne Grund enttäuschen. Aber jetzt bin ich davon überzeugt, daß dieses Unternehmen gelingen könnte. Sie sind nur eine Handvoll Verzweifelter, aber sie verfügen über eine mächtige Waffe ...«

»Und die wäre?«

»Der Glaube, mein Junge. Der Glaube, der Berge versetzt. Nicht der Glaube an einen Gott, denn sie sind nicht gewöhnt, sich auf ihn zu verlassen. Sie glauben vielmehr an den Menschen, selbst in dieser finsteren Zeit, selbst jetzt, da alle Ideale und sämtliche Gewißheiten erschüttert worden sind. Doch jetzt gehen wir etwas lernen!

Ich könnte dir vielleicht die notae tironianae beibringen. Was hältst du davon?«

Romulus sah ihn voller Bewunderung an. »Gibt es etwas, was dir nicht bekannt ist, Ambrosinus?«

Die Miene des Lehrers wurde plötzlich nachdenklich. »Viele Dinge«, sagte er, »und zwar ganz wichtige: ein Sohn, zum Beispiel; ein Haus, eine Familie ... die Liebe einer Frau ...« Er tätschelte Romulus, und über seine blauen Augen legte sich ein wehmütiger Schleier.

Das Boot fuhr weiter und umrundete die Nordspitze der Insel.

»Bist du sicher, daß wir das richtig verstanden haben?« fragte Batiatus.

»Und ob ich mir sicher bin! Es ist nicht das erste Mal, daß wir Botschaften austauschen«, erwiderte Aurelius.

»Das hier also ist das östliche Vorgebirge, und dies ist die Nordwand«, sagte Vatrenus. »Beim Herkules, sie ist senkrecht wie eine Mauer! Und dir zufolge sollten wir also bis dort oben hinaufklettern, den Jungen gegen die erklärten Absichten von etwa siebzig fuchsteufelswilden Wachen entführen, uns dann zum Meer herunterlassen, wieder ins Boot steigen und insalutato hospite das Weite suchen?«

»Ja, so ungefähr«, antwortete Aurelius.

Livia hantierte mit der Leine und stellte das Boot in den Wind, so daß es, sanft auf den Wellen schaukelnd, zum Stehen kam. Die Felswand ragte jetzt fast senkrecht über ihnen empor, nackt und kahl, und über ihr dann noch die Mauer der Villa.

»Dies ist für uns die einzige zugängliche Stelle«, fuhr Aurelius fort, »eben weil man es für unmöglich hält, daß irgend jemand hier hochklettern könnte. Wir haben gesehen, daß die Wachen hier nur zweimal vorbeikommen - einmal während der ersten Schicht und dann noch einmal, im Zuge der dritten, vor dem Morgengrauen.

Wir haben fast drei Stunden Zeit, um unseren Auftrag auszuführen.« Er stellte das mit Wasser gefüllte Stundenglas auf den Kopf und deutete mit dem Finger auf die verschiedenen Markierungen. »Eine Stunde, um da hinaufzuklettern, eine halbe Stunde, um den Jungen zu holen, eine halbe Stunde, um wieder herunterzukommen und zu verschwinden, und eine halbe Stunde, um zur Küste zu gelangen, wo die Pferde auf uns warten. Batiatus bleibt derweil unten, um das Schiff zu bewachen und die Seile zu handhaben, die anderen klettern hinauf. Livia wird sich zu diesem Zeitpunkt schon an Ort und Stelle befinden, im oberen Laufgraben der Nordmauer der Villa.«