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Livia spähte unter dem Rand des Deckels hervor und zog sich sofort wieder zurück. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung wurde die Plattform erneut heruntergelassen, und sie begriff, daß die Leute nun den Deckel mit einem Seil befestigen und das Gefäß kippen würden. Sie hielt den Atem an, bis das Wasser im Inneren nicht mehr hin und her schwappte, dann steckte sie sich ein Röhrchen in den Mund und atmete weiter. Während die Hebebühne langsam nach oben stieg, knirschte und schwankte der ganze Apparat mehr und mehr, und das zunehmende Sausen des Windes klang im Inneren des Kruges wie ein dumpfes Muhen. Livia hörte, wie ihr Herz immer schneller pochte, je ungemütlicher es in diesem engen, flüssigen Gefängnis wurde, in dieser Art von Uterus aus Stein, in dem sie bei jeder Schwankung durchgerüttelt wurde und schon jegliche Orientierung und Balance verloren hatte.

Am Ende ihrer Kräfte angelangt, war sie kurz davor, die Wand des Gefäßes mit ihrem Schwert zu zertrümmern - egal, was dann geschehen würde. Plötzlich spürte sie, daß die Lastenbühne endlich auf einer festen Unterlage aufgesetzt hatte. Sie faßte neuen Mut und hielt den Atem an, während der Krug auf dem Pflaster von den Dienern angeschoben und gerollt wurde und die Luft innen vollends ausging. Bald merkte sie, daß die Arbeiter den Krug wieder in eine aufrechte Position brachten und ihn vermutlich neben den anderen Gefäßen aufstellten. Sie hob den Kopf über die Wasseroberfläche, atmete tief ein und blies dann die Flüssigkeit durch die Nase aus. Als die Schritte der Arbeiter, die sich nun entfernten, vollkommen verklungen waren, zog sie ihren Dolch heraus, steckte ihn in die Ritze zwischen dem Hals des Gefäßes und dem Deckel, bis sie das Seil fand, das ihn dort festhielt, und begann es durchzuschneiden. Sie war erschöpft, und ihre Glieder waren ganz starr, vor Kälte wie gelähmt.

Nicht weit von ihr entfernt, in einem Zimmer der kaiserlichen Gemächer, bereiteten sich Ambrosinus und Romulus unterdessen auf die Flucht vor: Sie zogen bequeme Gewänder an und Beinkleider aus Filz, die rasche und absolut geräuschlose Bewegungen gestatteten. Der Alte steckte alles, was er von seinen Habseligkeiten zusammenraffen konnte, in seinen Reisesack: etwas zu essen und außerdem seine Pülverchen, seine Kräuter und seine Amulette. Und dazu noch die Aeneis.

»Aber das ist doch ein überflüssiges Gewicht«, sagte Romulus.

»Glaubst du? Und dabei ist es die kostbarste Last, mein Kind!« antwortete Ambrosinus. »Wenn man flieht und alles zurückläßt, ist der einzige Schatz, den wir mitnehmen können, die Erinnerung. Die Erinnerung an unsere Ursprünge, an unsere Wurzeln, an die Geschichte unserer Vorväter. Nur die Erinnerung kann uns eine Wiedergeburt aus dem Nichts ermöglichen. Gleichgültig, wo, gleichgültig, wann - wenn wir die Erinnerung an unsere vergangene Größe und an die Gründe bewahren, weshalb wir sie verloren haben, werden wir uns wieder aufraffen.«

»Aber du kommst aus Britannien, Ambrosinus, du bist ein Kelte.«

»Das stimmt, doch in diesem so schrecklichen Augenblick, in dem alles zusammenbricht und alles in Auflösung begriffen ist, in dem die einzige Zivilisation dieser Welt mitten ins Herz getroffen ist, müssen wir uns einfach als Römer bezeichnen.

Auch wir, die wir vom äußersten Rand des Reiches stammen, auch wir, die wir vor so vielen Jahren unserem Schicksal überlassen wurden ... Und du, Cäsar? Du nimmst gar nichts mit?«

Romulus zog das Schwert unter seinem Bett hervor. Er hatte es schon sorgfältig eingewickelt, verschnürt und einen Gurt daran befestigt, damit er es sich auf den Rücken binden konnte.

»Ich, ich nehme dieses hier mit«, sagte er.

Aurelius war noch etwa dreißig Fuß von der Querrille entfernt, die die Wand über die ganze Breite durchschnitt, als plötzlich ein Blitz den Felsen taghell erleuchtete, darauf folgte das Dröhnen eines Donners, und augenblicklich begann es, wie aus Eimern zu schütten. Jetzt gestaltete sich alles schwieriger: Die Haken wurden glitschiger und die Sicht verschwommener, weil das Wasser die Haare anklatschte und in die Augen drang, und mit jeder Sekunde wurde das aufgerollte Seil, das Aurelius über der Schulter trug, schwerer, da es sich immer mehr mit Wasser vollsog. Vatrenus ahnte die Probleme seines Freundes und versuchte, möglichst nah an ihn heranzukommen. Er fand Halt und schlug einen Haken in den Felsen, so hoch er gerade noch reichen konnte. Aurelius sah ihn, bewegte sich auf ihn zu, stellte den Fuß auf den Haken und zog sich nach oben, bis er eine Felsnase zu fassen bekam, die rechts von ihm aus der Wand ragte. Von dieser Stelle an hatte der Felsen eine flachere Neigung, was es ihm erlaubte, mit größerer Trittsicherheit bis zu dem Absatz zu gelangen, der unterhalb der Mauer lag. Es handelte sich um einen Grabenrand aus Kalkgestein, der bedeckt war mit Geröll, welches im Laufe der Jahrtausende von dem darüber gelegenen Felsen heruntergefallen war. Aurelius warf das Seil auf den Boden und beugte sich nach hinten, um nun seinerseits seinem Kameraden beim Heraufklettern zu helfen.

Sobald Vatrenus den Rand erreicht hatte, zog er den schweren Hammer aus der Tasche, schlug zwei Haken in den Felsen, sicherte daran das Seil, wickelte es ab und ließ es bis zum Anlegeplatz hinabfallen. Unten packte Batiatus das Ende und zog mit aller Kraft daran, um es zu testen.

»Es hält«, bemerkte Vatrenus voller Genugtuung.

Auf diese Weise, strammgezogen und mit den ungefähr dreißig im Abstand von je drei Fuß daran befestigten Stäben, sah das Seil fast wie eine Leiter aus.

»Der Junge schafft das bestimmt«, sagte Aurelius.

»Und der Alte?« fragte Vatrenus.

»Der auch. Der ist flinker, als du glaubst.« Er blickte hinauf und versuchte dabei, seine Augen gegen den herabströmenden Regen abzuschirmen. »Livia ist noch nicht zu sehen, verdammt noch mal.

Was machen wir jetzt? Ich warte noch ein bißchen, und dann gehe ich allein da hinauf.«

»Das ist doch Wahnsinn! Das schaffst du nie. Nicht unter diesen Umständen.«

»Du irrst dich. Ich steige mit den Haken hinauf. Gib mir die Tasche.«

Vatrenus sah ihn bestürzt an, doch just in diesem Augenblick wurden sie beide von einer Handvoll Steinchen getroffen. Aurelius blickte nach oben und erkannte die Umrisse einer Gestalt, die ausholende Gesten machte.

»Livia!« rief er aus. »Endlich!«

Das Mädchen warf ihr Seil herunter, das etwas oberhalb von Aurelius Kopf endete, der nun weiter hinaufkletterte, wobei er sich Hände, Arme und Knie aufschürfte und an den scharfen Kanten ganze Hautfetzen zurückließ, bis er schließlich das untere Ende des Seils zu fassen bekam. Dann setzte er unter gewaltigen Anstrengungen den Aufstieg fort. Der Wind, der immer heftiger wehte, ließ das Seil nach rechts und nach links schwingen und schleuderte ihn hin und wieder gegen die schroffen Felsen, was ihm Schmerzensschreie entlockte, die sich mit dem Tosen des Sturms vermischten. In der Ferne konnte er sehen, daß aus dem Schlund des Vesuvs gelegentlich ein dunkler, blutroter Feuerschein aufleuchtete. Das mit Wasser vollgesogene Seil wurde immer rutschiger, und das Gewicht seines Körpers zog ihn manchmal nach unten, so daß er in einem einzigen Augenblick das an Höhe verlor, was er gerade so mühsam erobert hatte, und dadurch verlängerten sich seine Torturen. Doch jedesmal kletterte er beharrlich wieder hinauf, biß die Zähne zusammen, überwand die Müdigkeit und die Pein, die er in jedem Muskel, in jedem Gelenk spürte, und auch die Schmerzen in seiner alten Wunde, die ihm wie Dolchstiche in den Schädel drangen.

Mit qualvoller Spannung verfolgte Livia jede seiner Bewegungen, und als Aurelius endlich nahe genug war, beugte sie sich mit dem ganzen Oberkörper weit über die Brüstung, packte ihn am Arm und zog, so gut sie konnte. Mit einer letzten Anstrengung kletterte Aurelius über die Brüstung und drückte seine Kameradin in einer befreienden Umarmung inmitten des prasselnden Regens an sich. Sie war es, die sich als erste aus ihr löste. »Schnell, helfen wir Vatrenus und den anderen.«