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Flavia Serena schien sich einen Augenblick lang einzureden, daß diese Worte der Wahrheit entsprachen, weil sie im Grunde ihres Herzens nichts anderes wollte, als sie zu glauben. Aber während sie versuchte, ihr Lächeln wiederzufinden, um an dem Empfang teilzunehmen, ertönte das Gebell des Hundes noch lauter, und ihm antwortete fast umgehend ein ganzer Chor von Kläffern. Die Anwesenden blickten sich an, und just in diesem Augenblick der Stille drang ein Alarmschrei vom Hof herauf, und dann rief der länger anhaltende Klang der Hörner die Wache zum Appell. Gleich darauf stürzte ein Offizier in den Saal und lief auf Orestes zu. »Wir werden angegriffen, mein Herr! Es sind Hunderte, angeführt von Wulfila, Odoakers Stellvertreter!«

Orestes zog ein Sehwert aus einer Rüstung, die an der Wand hing, und rief: »Schnell, alle Mann zu den Waffen! Wir werden angegriffen! Ambrosinus, nimm den Jungen und seine Mutter und versteckt euch im Holzschuppen. Rührt euch unter gar keinen Umständen von der Stelle, bis ich komme und euch hole. Schnell, schnell!«

Und schon hörte man donnerndes Klopfen am Tor, den Lärm eines Rammbocks, der den ganzen inneren Bereich der Villa erbeben ließ. Die Verteidiger liefen auf die Estrade, um den Angriff zurückzuschlagen, aber in diesem Augenblick wurden schon Dutzende von Leitern gegen die Brüstung gelehnt, und Hunderte von Kriegern schwärmten, wilde Schreie ausstoßend, von allen Seiten herein. Unter dem Gehämmer des Rammbocks gab das Portal plötzlich nach, und ein riesiger Reiter stürmte mit einem akrobatischen Satz seines Pferdes ins Innere des Hauses. Orestes erkannte ihn, warf sich ihm mit gezücktem Schwert entgegen und rief: »Wulfila, du verfluchter Hund!«

Unterdessen hatte Ambrosinus, den entnervten und verängstigten Knaben hinter sich herziehend, das Versteck erreicht, aber in dem ganzen Durcheinander und der Eile gar nicht bemerkt, daß Flavia Serena ihnen nicht gefolgt war. Durch einen Spalt in der Tür wurde Romulus nun Zeuge des Dramas: Er sah die Gäste, der Reihe nach niedergestreckt, im eigenen Blut zu Boden sinken, sah, wie sein Vater sich mit dem Mut des Verzweifelten jenem struppigen Riesen entgegenstellte, sah, wie er verwundet auf die Knie fiel, sich wieder erhob, noch einmal das Schwert schwang, sich bis zum letzten Fünkchen Kraft wacker schlug und dann durchbohrt zusammenbrach. Das krampfhafte Zucken seiner Augenlider zerlegte jede Bewegung dieser Tragödie in winzige Teile, zerbrach sie in tausend spitze Splitter, die sich ihm ins Gedächtnis bohrten. Er hörte seine Mutter rufen: »Ihr Verfluchten! Verflucht sollt ihr sein!« und sah, wie Ambrosinus ins Freie stürzte, um sie in Sicherheit zu bringen, während sie noch, von Angst gepackt, schrie und sich, neben ihrem sterbenden Mann kniend, die Haare raufte und das Gesicht zerkratzte. Da stürzte auch er ins Freie, entschlossen, lieber mit seinen Eltern zu sterben, als in dieser grausamen Welt allein zurückzubleiben. Er sah, wie der hünenhafte Krieger seine Hand in das Blut seines Vaters tauchte, sich einen zinnoberroten Streifen auf die Stirn malte und dann auf die Stelle zueilte, auf die Orestes' Schwert gefallen war, um es tollkühn gegen den Feind zu schwingen, aber Ambrosinus ging ihm im Hagel der Wurfspieße mit leichten, fast unmerklichen Schritten entgegen, zwischen den Kämpfenden hindurch, die sich einen wilden Nahkampf lieferten, und blieb zwischen ihm und dem Schwert eines Barbaren stehen, der in diesem Augenblick angriff. Die Klinge hätte beide getötet, wenn Wulfila den Hieb nicht abgefangen hätte. »Du Idiot!« knurrte er dem Kämpfer zu, »siehst du denn nicht, wer das ist?«

Der andere ließ verwirrt das Schwert sinken. »Nimm alle drei gefangen!« befahl ihm Wulfila. »Wir bringen sie fort. Nach Ravenna.«

Die Schlacht war zu Ende und die Verteidiger besiegt. Man hatte sie bis zum letzten Mann über die Klinge springen lassen. Von den Gästen hatten sich einige durch Flucht aus den Fenstern in die Dunkelheit hinaus gerettet, andere hatten sich in den Unterkünften des Gesindes, unter den Betten oder in den Lagerhäusern inmitten des Hausrats versteckt. Viele waren in der Hitze des ersten Angriffs ohne Erbarmen niedergemäht worden. Auch die Musiker, die die Festteilnehmer mit ihren Melodien erfreut hatten, waren tot und lagen mit weit aufgerissenen Augen da, in den Händen noch ihre Instrumente. Die Frauen wurden wiederholt vergewaltigt und mußten jede erdenkliche Schändlichkeit über sich ergehen lassen; die Männer waren gezwungen worden, die Gewalttätigkeiten mit anzusehen, die an ihren Frauen oder Töchtern begangen wurden, bevor sie ihrerseits zu Boden geschleudert und wie Schafe geschlachtet wurden.

Im Innengarten der Villa wurden die Statuen von ihren Sockeln gerissen, die Hecken und Büsche entwurzelt, in den Brunnen schwamm Blut, und die Mauern und die freskenverzierten Wände waren bald schon mit Blutspritzern übersät. Jetzt führten die Barbaren ihr Werk zu Ende, indem sie alles, was in der prachtvollen Residenz wertvoll war, plünderten: Kandelaber, Möbel, Geschirr. Andere, denen es nicht gelungen war, sich Wertgegenstände unter den Nagel zu reißen, verstümmelten und entstellten die Leichen oder entleerten ihre Blase oder ihren Darm auf die herrlichen Mosaikböden. Allenthalben hörte man neben den unartikulierten Schreien dieser vom Blutbad berauschten Wilden das Prasseln des Feuers, das nun allmählich das unglückselige Haus verzehrte.

Die drei Gefangenen wurden fortgerissen und auf ein Fuhrwerk gesetzt, das von zwei Maultieren gezogen wurde. Wulfila rief: »Los, wir hauen ab! Weg von hier! Los, habe ich gesagt, wir haben noch einen weiten Weg vor uns!«

Seine Leute ließen die bereits in Schutt und Asche liegende Villa nur ungern zurück und reihten sich in eine Kolonne ein, die dem kleinen Konvoi hinterher trabte. Auf dem Karren weinte Romulus im Arm seiner Mutter lautlos im Dunkeln vor sich hin. In weniger als einer Stunde war er vom Prunk der Kaiserwürde in eine erbärmliche Lage gestürzt. Sein Vater war vor seinen Augen niedergemetzelt worden, und er war ein Gefangener dieser Bestien, war ihnen mit Haut und Haar ausgeliefert. Ambrosinus, der hinter ihnen saß, blieb stumm und vor Schmerz wie betäubt. Er wandte sich nur von Zeit zu Zeit um und betrachtete das große Landhaus, das ein Raub der Flammen geworden war, und die Rauch- und Funkenspiralen, die zum Himmel aufstiegen und über dem Horizont einen düsteren Schein verbreiteten. Er hatte nur den Quersack gerettet, mit dem er viele Jahre zuvor nach Italien gekommen war, und ein einziges unter den Tausenden von Büchern, die die Bibliothek enthalten hatte: die großartig illustrierte Aeneis, ein Geschenk der Senatoren an Romulus. Hin und wieder strich er mit der Hand über den Ledereinband des Buches, und es kam ihm fast so vor, als sei das Schicksal überhaupt nicht grausam gewesen, da es ihm doch auf vielleicht prophetische Weise erlaubt hatte, von Vergil und seinen Versen begleitet zu werden.

Aurelius mußte auf seinem nächtlichen Ritt mehrmals feststellen, daß die Straße abgeriegelt war. Odoaker hatte an Brücken und Furten Wachen postiert, und auf den Konsularstraßen patrouillierten ganze Mannschaften von barbarischen Soldaten, so daß der Reiter öfter von seinem Weg abweichen mußte und sich mit Furten konfrontiert sah, die die herbstlichen Regenfälle in reißende Ströme verwandelt hatten. Manchmal war er auch gezwungen, unwegsamen Pfaden durch die Berge zu folgen. Als er wieder in die Ebene hinunterritt, wurde ihm klar, daß sein Pferd es nicht schaffen würde; das edle Tier würde verenden, wenn er es noch weiter derart zum Galopp antrieb. Es war mit Schaum und Schweiß bedeckt und kurzatmig und hatte aufgrund der enormen Anstrengung schon glasige Augen. Da kam ihm das Schicksal zu Hilfe, indem es vor ihm in der Ferne Lichter auftauchen ließ und dann ein Gebäude, das einen vertrauten Anblick bot: eine Pferdewechselstation auf der Via Postumia, die auf wunderbare Weise intakt geblieben und offensichtlich noch in Betrieb war. Im Näherkommen hörte er das Schild knarren, das an einer in die Außenwand eingemauerten Eisenstange hing. Es war zwar halb verrostet, aber man konnte noch die Abbildung einer Sandale und eine in schönen Großbuchstaben geschriebene Aufschrift erkennen: MANSIO AD SANDALUM HER-CULIS. Auf einem Meilenstein vor dem Haus stand: m. p. XXII. Es waren also zweiundzwanzig Meilen bis zur nächsten Station - vorausgesetzt, daß es diese überhaupt noch gab. Aurelius sprang vom Pferd und trat keuchend ein: Drinnen döste ein Angestellter des Postdienstes auf einem Stuhl, während einige Gäste, die auf ihren Mänteln auf dem Fußboden lagen, in tiefen Schlummer versunken waren. Aurelius rüttelte ihn wach. »Kaiserlicher Dienst«, sagte er, »höchste Dringlichkeitsstufe und absolute Priorität: Es geht für viele Leute um Leben oder Tod! Draußen steht mein Pferd, es ist erschöpft; ich brauche ein neues, und zwar sofort.«