Am Ende des langen Geheimgangs sah man tatsächlich den Schein von Fackeln, und sogleich hörte man Schreie und Rufen: Wulfila höchstpersönlich führte seine Wachen durch den Schutt nach unten und dann an der Reihe der kaiserlichen Statuen entlang.
»Schnell, schnell!« sagte Romulus. »Es gibt einen Fluchtweg in dieser Zelle!« Die Gruppe verschwand im Inneren, und die große Platte schob sich hinter ihnen wieder zu. Sofort hallte der Hohlraum des kleinen Hypogäums vom Geklirr der Waffen, die gegen den Marmor stießen, und dem Wutgeheul Wulfilas wider, und obwohl der große Monolith so stark war, daß er einen unüberwindlichen Schutz darstellte, erfüllte das Dröhnen der Hiebe dieser unbändigen Wut den engen Raum mit einem Gefühl der Bangigkeit, verdichtete sich in dieser unbewegten Luft eine ohnmächtige, aber dennoch schreckliche, unmittelbare Bedrohung. Einen Moment lang blickten sie einander bestürzt an, doch schon zeigte Romulus ihnen den Brunnenrand, von dem ein so geheimnisvolles bläuliches Leuchten ausging, als halte diese Öffnung Kontakt mit dem Jenseits.
»Dieser Brunnen ist mit dem Meer verbunden«, sagte Romulus dann, »und bietet den einzigen Ausweg. Gehen wir! Hier gibt es nichts, was wir noch tun könnten.« Und vor den Augen aller seiner Begleiter stieg er, bevor irgend jemand Zeit hatte, auch nur ein einziges Wort zu sagen, in den Brunnen. Aurelius zögerte keinen Augenblick und stürzte hinter ihm her. Gleich darauf warf sich Livia hinein, und nach ihr Demetrios, Orosius und Vatrenus. Ambrosinus war der letzte, und er hatte zunächst den Eindruck, daß das lange Rutschen auf einer Art schiefer Ebene und dann der senkrechte Fall durch eine enge Röhre niemals enden würden. Die Berührung mit dem Wasser löste in ihm Panik und Platzangst aus, aber dann, gleich danach, durchströmte ihn ein Gefühl des Friedens. Er spürte, daß er sanft in einer blubbernden Flüssigkeit, umgeben von einem himmlischen und pulsierenden Licht, dahintrieb. Die Lampe, die er fest in der Hand hielt, entglitt ihm und ging langsam unter, bis sie auf dem Grund liegenblieb, und dann ließ diese leuchtende Kugel das ganze Wasser in einem intensiven und strahlenden Saphirblau erscheinen. Ambrosinus tauchte zwischen seinen Gefährten auf, die gerade versuchten, zum Ufer zu gelangen. Sie befanden sich inmitten einer Grotte, die über eine kleine Öffnung, die so knapp über der Wasseroberfläche lag, daß man sie kaum sah, mit dem Meer verbunden war. Aurelius und die anderen betrachteten verblüfft die unter Wasser brennende Flamme, während der alte Lehrer, nicht minder staunend, um sich blickte. Vatrenus wandte sich an ihn und deutete auf das Licht, das vom Meeresboden selbst auszustrahlen schien. »Aber ... was ist denn das für ein Wunderwerk? Bist du vielleicht ein Zauberer?« fragte er.
»Das ist griechisches Feuer, ein Rezept von Hermogenes aus Lampsakos«, erwiderte Ambrosinus mit betonter Gleichgültigkeit. »Es brennt auch unter Wasser.« Aber er ließ seinen Blick rundum schweifen, um die großartigen Skulpturen der olympischen Götter zu betrachten, die ganz oder teilweise aus dem Wasser der Meeresgrotte ragten: Neptun auf einem von Pferden mit Fischschwänzen gezogenen Wagen, seine Gemahlin Amphrotite mit einem Gefolge von Meeresnymphen und Tritonen, die in Muscheln bliesen und dabei ihre mit Schuppen bedeckte Brust aufblähten. Das unwirkliche Licht, das sich durch die Wellenbewegung auf den Figuren widerspiegelte, schien diesen Leben einzuhauchen, ihre Gesichter und starren Augen aus Marmor zu beleben. Ein altes Nymphäum, geheim und verlassen.
Auch Romulus betrachtete entzückt diese Bilder. »Wer sind sie?« fragte er.
»In Vergessenheit geratene Götter«, erwiderte Ambrosinus.
»Aber ... haben sie je existiert?«
»Natürlich nicht!« protestierte Orosius entrüstet. »Es gibt nur einen Gott!«
Ambrosinus warf ihm dagegen einen rätselhaften Blick zu. »Vielleicht«, antwortete er Romulus. »Solange jemand an sie geglaubt hat.«
Darauf folgte ein langes Schweigen: Alle schienen von der Magie des Ortes überwältigt zu sein. Dieses blaue Licht, das das hohe Felsengewölbe zurückwarf, diese Bilder, das ferne Rollen des Donners, der mächtige Atem des Meeres, das nach dem Sturm langsam wieder seine Wellen glattstrich - dies alles erfüllte sie mit einem Gefühl einer fast überirdischen Ruhe. Sie zitterten vor Kälte und waren erschöpft von den Strapazen, von den übermenschlichen Anstrengungen, die sie hatten auf sich nehmen müssen, und dennoch spürten sie in ihren Herzen ein unsägliches Glücksgefühl.
Romulus unterbrach als erster das Schweigen. »Sind wir jetzt frei?« fragte er.
»Im Augenblick, ja«, antwortete Ambrosinus. »Wir befinden uns noch auf der Insel. Aber ohne dich wären wir schon alle tot. Du hast dich wie ein wirklicher Führer verhalten.«
»Und was machen wir jetzt?« fragte Vatrenus. »Batiatus hat mitbekommen, daß wir nicht herunterklettern konnten, und wird losgesegelt sein. Wahrscheinlich kreuzt er hier irgendwo herum. Wir müssen versuchen, ihn zu erreichen, oder dafür sorgen, daß er uns erreicht.«
»Ich gehe und schau einmal nach«, sagte Livia. »Du bleibst hier mit dem Jungen.« Und ehe Aurehus antworten konnte, tauchte sie ins Wasser, durchquerte mit ein paar kräftigen Zügen die Grotte und schwamm ins offene Meer hinaus. Dort hielt sie sich eine Weile parallel zur Küste, bis sie eine Stelle fand, wo es möglich war, auf den Felsen zu klettern. Sie stieg so hoch hinauf wie möglich, so daß sie eine große Fläche überblicken konnte, und wartete dort, vor Kälte zitternd. Die Wolken begannen aufzureißen, und der Mond warf sein Licht auf die Wellen; auf dem Festland schleuderte der Vesuv rote Blitze gegen die Wolken, die, vom Westwind getrieben, über den Himmel jagten.
Plötzlich fuhr sie hoch: Hinter einem Vorgebirge tauchte ein Boot mit einer kleinen Laterne am Bug auf. Im Heck bediente eine unverwechselbare Silhouette das Steuer. Sie schrie: »Batiatus! Batiatus!«
Das Schiff wendete und fuhr dicht an der Küste entlang.
»Wo bist du?« rief der schwarze Riese.
»Hier, hier!«
»Endlich!« sagte Batiatus, sobald er näher gekommen war. »Ich hatte schon beinahe die Hoffnung aufgegeben. Seid ihr alle beisammen?«
»Ja, Gott sei Dank. Die anderen halten sich hier drinnen versteckt, in einer Grotte. Gleich hole ich sie heraus.«
Batiatus stellte das Segel in den Wind, während Livia wieder ins Wasser tauchte und zur Grotte hinüberschwamm, um ihren Gefährten Bescheid zu geben.
Die Flüchtlinge sprangen, einer nach dem anderen, ins Wasser und schwammen ins offene Meer hinaus und auf das Boot zu, während Batiatus sie anspornte: »Schnell, schnell! Ich habe vorhin schon ein Schiff aus dem Hafen ausfahren sehen. Schnell, bevor sie uns entdecken!«
Livia war als erste an Romulus Seite, und zusammen kletterten sie mit Batiatus Hilfe an Bord. Dann war Ambrosinus an der Reihe. Ihm folgten Vatrenus, Orosius und Demetrios. Aurelius hatte einen der Felsen erklommen, um sich einen besseren Überblick über die Lage zu verschaffen, als er sah, daß sich links von ihm ein rötlicher Schein auf den Wellen ausbreitete und dann ein mit Ruderkraft angetriebenes Kriegsschiff erschien. Wulfila stand im Bug und steuerte auf Batiatus Boot zu. Aurehus zögerte nicht und schrie aus voller Kehle: »Wulfila, ich erwarte dich! Komm her und hol mich, du Barbar, wenn du den Mut dazu hast! Du verdammter Kerl mit deiner Narbe, komm nur her und hol mich!«
Wulfila drehte sich zur Küste um und sah im Schein der - Buglaterne und der Fackeln seinen Feind aufrecht auf einem Felsen stehen, in der Hand das unbezwingbare Schwert. Wulfila brüllte: »Wenden! Wenden! Ich will diesen Mann, und ich will dieses Schwert, und zwar um jeden Preis!«
Batiatus begriff, segelte mit dem Wind und fuhr weiter in Richtung Festland, während Romulus ausrief: »Nein! Nein! Wir müssen ihm helfen! Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen! Kehr um, kehr um, ich befehle es dir!«