Ambrosinus' Miene verfinsterte sich. »Konstantinopel ... habe ich recht? Ihr wollt ihn nach Konstantinopel bringen ... Das ist eine Schlangengrube, wo beim Kampf um die Macht niemand verschont bleibt, weder Brüder noch Schwestern, noch Eltern, ja nicht einmal die eigenen Kinder ...« Er hatte nicht bemerkt, daß Romulus hinzugetreten und ihm wahrscheinlich kein einziges Wort seiner flammenden Rede entgangen war. Doch es war schon zu spät, und der Junge war sich ohnehin seiner Situation bewußt. Ambrosinus legte ihm eine Hand auf die Schulter und zog ihn an sich, als wolle er ihn vor einer neuen Gefahr beschützen, die nicht geringer war als die, der er bislang ausgesetzt gewesen war. »Dort unten hätte er niemanden, der ihn beschützen könnte«, fuhr er fort. »Er wäre jeder Laune, jeder Willkür ausgeliefert. Laß ihn bei mir, ich bitte dich.«
Livia gelang es nicht, seinem Blick standzuhalten. Sie erwiderte, nicht ohne Unbehagen: »Er ist nicht irgendein Knabe, und das weißt du sehr wohl. Du kannst nicht im Ernst glauben, daß du ihn führen kannst, wohin es dir gefällt, aber ohne uns würdet ihr sowieso nicht weit kommen. Jedenfalls darfst du, wenn du willst, mit ihm gehen. Aber jetzt steigt lieber auf. Reiten wir los! Es ist gefährlich, hierzubleiben, wir sind zu nahe an der Küste.« Sie gab ihrem Pferd die Sporen und ritt den Pfad hinauf, der tiefer ins Dickicht hineinführte.
»Es ist eine Frage des Geldes, nicht wahr? Es geht um die Solidi, oder?« rief Ambrosinus hinter ihr her.
Aurelius legte ihm die Zügel des Maulesels in die Hand. »Rede keine Dummheiten, Lehrer! Hast du eine Vorstellung, was sie ihr angetan hätten, wenn sie sie bei dem Versuch, euch zu befreien, erwischt hätten? Niemand riskiert sein Leben nur des Geldes wegen. Und wir alle haben es riskiert, und zwar gleich mehrmals. Und jetzt los! Hast du verstanden?«
»Kann ich zu dir aufs Pferd steigen?« fragte Romulus Aurelius, aber dieser lehnte ab. »Es ist besser, wenn du mit deinem Lehrer reitest«, sagte er. »Im Fall eines Angriffs müssen wir uns ungehindert bewegen können.« Und er gab seinem Pferd die Sporen. Enttäuscht setzte sich Romulus hinter Ambrosinus, der sein Reittier anspornte und schweigend den Pfad entlangritt; ihnen folgten Vatrenus, Orosius, Demetrios und Batiatus paarweise und in verhaltenem Schritt. Als sie den höchsten Punkt einer Anhöhe erreicht hatten, wandten sie sich zur Küste um: Unter den Strahlen der bereits ziemlich hoch über dem Bergkamm stehenden Sonne glitzerte das Meer, und man konnte deutlich die Umrisse des Bootes erkennen, das in einem leicht wirbelnden Schaum versank. Auf der anderen Seite erhoben die Berge des Apennin ihre schneebedeckten weißen Spitzen über den Wald, über das dunkle Grün der Tannen. Der Weg nach oben wurde steiler, und die Reiter verlangsamten ihr Tempo. Nur Vatrenus gab seinem Pferd die Sporen und schloß sich Livia und Aurelius an, um die Spitzengruppe zu verstärken, die am meisten gefährdet war.
»Eines möchte ich noch gern wissen«, sagte Vatrenus auf einmal, an Livia gewandt.
»Und das wäre?«
»Was ist mit dem Fischer passiert, der die Nordwand hochgeklettert ist, um Kaiser Tiberius eine Languste zu bringen?«
»Der Kaiser hat das nicht besonders gut aufgenommen. Er hat sich geärgert, weil es einem Eindringling gelungen war, seine Villa von einer Seite her zu betreten, die man für unzugänglich gehalten hatte, und er hat seinen Wachen befohlen, dem Fischer mit der Languste wiederholt über das Gesicht zu streichen, bevor sie ihn endgültig vor die Tür setzten.«
Vatrenus kratzte sich den Nacken. »Verflixt. Da ist es uns ja viel besser ergangen.«
»Bis jetzt«, sagte Aurelius.
»Richtig, bis jetzt«, räumte Vatrenus ein.
In einem Abstand von etwa hundert Fuß folgten ihnen Ambrosinus und der Knabe auf dem Rücken ihres Maulesels.
»Glaubst du wirklich, daß sie mich nach Konstantinopel bringen?« fragte Romulus.
»Ich fürchte ja«, antwortete Ambrosinus. »Oder besser: Ich bin mir sicher. Livia hat es nicht abgestritten, als ich das behauptet habe -vielmehr hat sie es in gewisser Hinsicht sogar bestätigt.«
»Und ist das wirklich so fürchterlich?«
Ambrosinus wußte nicht, was er erwidern sollte.
»Sag es mir«, beharrte Romulus. »Ich habe das Recht zu erfahren, was mich erwartet.«
»Tatsache ist, daß ich das auch nicht weiß. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Eines aber ist klar: Livia hat von jemandem den Auftrag bekommen, dich aus Capri wegzubringen. Sie ist es, die alles organisiert hat. Die Anwesenheit von Aurelius hat mich anfangs auf die falsche Fährte gelockt, weil ich wußte, daß er schon einmal, in Ravenna, einen Versuch unternommen hatte, dich zu befreien. Es erschien mir deshalb plausibel, daß er es noch ein zweites Mal versuchen könnte. Die Tatsache, daß er das Mädchen bei sich hatte, hat mich nicht so sehr erstaunt. Sie hätte ja seine Braut sein können. Viele Soldaten haben so ein Mädchen, das sie nach Beendigung ihres Militärdienstes normalerweise auch heiraten. Aber ich habe meine Meinung revidieren müssen: Offensichtlich ist sie es, die das Heft in der Hand hat, und folglich ist sie es auch, die über das Geld verfügt, mit dem sie am Ende ausgezahlt werden.«
»Dann stimmt es also, was du gesagt hast ... Sie haben es wegen des Geldes getan.«
»Auch in diesem Fall müßten wir ihnen unbedingt dankbar sein. Aurelius hat recht: Niemand riskiert sein Leben nur um des Geldes willen, aber sicher hilft das Geld etwas nach. Es ist legitim, daß ein Mann versucht, seine eigenen Lebensverhältnisse zu verbessern, vor allem in diesen Zeiten, und sie sind ja Versprengte, Soldaten, die kein Heer und keine Heimat mehr haben.«
»Warum hast du vorhin diese Sachen gesagt? Was könnte mir passieren, wenn ich nach Konstantinopel gehe?«
»Wahrscheinlich nichts. Du würdest im Luxus leben, vielleicht sogar in allzu großem Luxus. Aber du bist immer noch der Kaiser des Westens, und dies birgt in diesen Gegenden auf jeden Fall Gefahren. Jemand könnte dich einfach gegen einen anderen ausspielen, wie man es mit einer Figur in einem Brettspiel tut, verstehst du? Derlei Figuren opfert man manchmal, ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken, daß ein späterer Zug einen dem Sieg vielleicht näher gebracht hätte. In einem solchen Fall ginge das leider immer auf deine Kosten. Konstantinopel ist eine korrupte Hauptstadt.«
»Sie sind also auch nicht besser als die Barbaren.«
»Auf dieser Welt hat alles seinen Preis, mein Kind: Wenn ein Volk eine hohe Stufe der Zivilisation erreicht, entwickelt es zugleich auch einen gewissen Grad an Korruption. Die Barbaren sind eben deswegen nicht korrupt, weil sie Barbaren sind. Aber auch sie werden bald die prächtigen Kleider, das Geld, die raffinierten Speisen, die Parfüms, die schönen Frauen, die komfortablen Häuser schätzen lernen. Alle diese Dinge sind nicht gratis zu haben, ja, um sie zu bekommen, braucht man viel Geld, so viel, wie es einem nur die Korruption verschaffen kann. Auf jeden Fall gibt es keine Zivilisation ohne ein gewisses Maß an Barbarei und keine Barbarei, die nicht auch ein paar Keime der Zivilisation in sich trägt. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja, ich glaube schon. Aber was für eine Welt ist dann die, in der wir leben, Ambrosinus?«
»Die bestmögliche oder die schlechtestmögliche - je nachdem, von welcher Seite man sie betrachtet. Meiner Meinung nach ist aber die Zivilisation in jedem Fall der Barbarei bei weitem vorzuziehen.«
»Und was ist, deiner Meinung nach, die Zivilisation?«
»Zivilisation bedeutet Gesetze, politische Einrichtungen, Rechtssicherheit. Sie bedeutet Berufe und Gewerbe, Straßen und Kommunikationsmöglichkeiten, Riten und Feste. Wissenschaft, aber auch Kunst, vor allem Kunst; Literatur, Poesie wie die von Vergil, die wir so oft zusammen gelesen haben - geistige Tätigkeiten, die uns Gott sehr ähnlich machen. Ein Barbar ähnelt dagegen viel eher einem Tier. Ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausgedrückt habe. Einer Zivilisation anzugehören verleiht einem einen besonderen Stolz, den Stolz, an einem großen gemeinsamen Unternehmen mitzuwirken, dem größten, das der Mensch überhaupt durchführen kann.«