»Claudianus war ein großer Soldat und ein sehr integrer Mann. Ein Römer, wie es sie heute nicht mehr gibt. Wenn er dir sein Vertrauen schenkte, bedeutet das, daß du seine Achtung verdient hast.«
»Du hast ihn also gekannt.«
»Persönlich, was mir zur Ehre gereicht. Die Mauerkrone, die du auf meiner Standarte siehst, verdiente ich mir unter seinem Befehl. Er selbst hat sie mir vor den Mauern von Augusta Raurica verliehen.«
»Der dortige Kommandant Claudianus ist gefallen, hinterrücks angegriffen von Odoakers Truppen. Meine Kameraden und ich sind einige wenige, die das Massaker überlebt haben. Doch nicht aus Feigheit oder weil wir desertiert sind.«
»Wir wollen keinerlei Einmischung, aber auch kein Chaos herbeiführen«, fügte Aurelius in gramerfülltem Ton hinzu. »Wir suchen nur einen ruhigen, entlegenen Ort, um diesen unglücklichen jungen Menschen in Zukunft vor der grausamen Verfolgung zu bewahren, deren Opfer er bis zum jetzigen Augenblick war. Er strebt weder nach Macht noch nach Auftrag und hat auch kein Interesse an einem öffentlichen Amt. Er sucht lediglich Ruhe und Vergessen, um endlich das Leben eines gewöhnlichen Menschen zu führen. Und wir mit ihm. Wir haben alles gegeben, was wir konnten. Wir haben für Rom unseren Schweiß und unser Blut vergossen. Und jedesmal, wenn es nötig war, unser Leben riskiert und uns niemals geschont. Wir haben Rom verlassen, weil wir uns weigern, den Barbaren Gehorsam zu leisten. Das hat nichts mit Desertion, sondern mit Würde zu tun. Außerdem sind wir erschöpft, ermattet und entmutigt. Laß uns gehen, General.«
Volusianus wandte sich wieder dem Horizont zu und betrachtete den langen, blutroten Streifen, der im Westen die Schneewüste einsäumte. Nur mühsam kamen die Worte aus ihm heraus, als sei ihm die Kälte, die ihm die Glieder gefror, bis ins Herz gedrungen: »Ich kann nicht«, antwortete er. »Syagrius hat mir Offiziere zur Seite gestellt, die nur danach streben, meine Nachfolge anzutreten und mich zu ersetzen. Sie meinen, mein Einfluß auf die Truppen sollte gemindert werden. Durch sie wird er ohnehin über eure Anwesenheit unterrichtet sein. Falls ich diesen Punkt also nicht selbst zur Sprache bringe, mache ich mich in seinen Augen so verdächtig, daß ich in Zukunft von ihm kein Verständnis mehr erwarten kann. Daher ist es besser, wenn ich ihn persönlich in Kenntnis setze.«
»Was geschieht dann mit uns?«
Ambrosi Volusianus bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. Er hatte die grauen Augen eines Raubvogels, und seine Gesichtshaut war von tiefen Falten durchfurcht und wirkte sehr trocken. Sein Haar war kurz geschnitten, und er trug einen mehrere Tage alten Bart. Die Mühen und Anstrengungen seines Lebens waren in jedem Zug seiner Persönlichkeit abzulesen, ebenso seine Fähigkeit, Menschen zu beurteilen.
»Ich glaube dir«, sagte er nach ein paar Augenblicken des Schweigens. »Was möchtest du wissen?«
»Ob wir unter deinem Schutz stehen oder in deinem Gewahrsam sind.« »Sowohl als auch.« »Warum?«
»Nachrichten über große Veränderungen im Bereich der Macht verbreiten sich schneller, als du denkst.«
»Das ist mir klar. Es wundert mich nicht, daß dein König über Odoaker und die Ermordung des Flavius Orestes informiert ist und auch du auf dem laufenden bist. Was weißt du noch, wenn ich fragen darf?«
»Daß Odoaker zu Wasser und zu Lande nach einem Jungen von dreizehn Jahren sucht, der unter dem Schutz einer Handvoll Deserteure steht und sich in Begleitung von sehr ... pittoresken Gestalten befindet.« Aurelius blickte zu Boden.
»Und jeder, der mit der Regierungsverantwortung betraut ist«, fuhr Volusianus fort, »ist sich darüber im klaren, daß dies genau das Alter des letzten Kaisers im Westreich ist, Romulus Augustus, von vielen auch Augustulus genannt. Du wirst zugeben, daß die Übereinstimmung dieser Fakten allzu eindeutig ist, als daß man sie unberücksichtigt lassen könnte.« »Das muß ich zugeben«, antwortete Aurelius. »Ist er es?«
Aurelius zögerte, dann nickte er. Und während er seinem Gesprächspartner direkt in die Augen blickte, fügte er noch hinzu: »Von einem römischen Soldaten zum anderen gesagt.«
Volusianus nickte mit ernster Miene.
Volusianus sah ihm in die Augen. »Ich verspreche, die Identität dieses Jungen nicht preiszugeben, denn es ist nicht gesagt, daß die anderen sie auch nur erahnen. Im besten Falle könnte er sie selbst vergessen und nicht mehr beachten, so daß er die volle Verantwortung mir überließe. Ich kann dann die Maßnahmen treffen, die mir als die angenehmsten erscheinen. In diesem Falle ...«
»Und falls er die Wahrheit ahnt?«
»Nun, dann wäre es besser, euch keine Illusionen darüber zu machen. Der Junge ist sehr viel wert, allzu viel, wenn man es in Geld oder politischen Beziehungen ausdrücken will. Syagrius kann nicht unbeachtet lassen, daß Odoaker jetzt in Italien das Sagen hat. Er ist der wahre rex Romanorum. Was euch betrifft, ist die Sache einfach. Ich könnte für euch einen Anwerbungsvertrag für mein Heer erwirken, da wir immer gute Soldaten brauchen. Und da nimmt man es nicht so genau.«
»Ich verstehe«, antwortete Aurelius, der fühlte, wie ihm die Eiseskälte in sein Herz kroch. Dann machte er Anstalten, sich zu entfernen.
»Soldat!«
Aurelius blieb stehen.
»Warum liegt dir so viel an diesem Jungen?«
»Weil ich ihn gern habe«, antwortete er, »und weil er der Kaiser ist.«
Aurelius hatte nicht den Mut, Ambrosinus, aber noch weniger Livia den Ausgang dieses Gesprächs zu offenbaren, und hoffte im Vertrauen auf Volusianus Wort, daß Romulus Identität geheim bleiben könnte. Durch und durch ein Ehrenmann, behielt er die Sorgen, die an ihm nagten, für sich und strengte sich an, möglichst ruhig zu wirken und sogar mit Romulus und den anderen Gefährten zu scherzen.
Am fünften Tag ihrer Schiffsreise erreichten sie kurz vor Sonnenuntergang die Stadt. Alle drängten sich an der Reling auf dem Vorschiff zusammen, um den sich ihnen bietenden Anblick zu bewundern. Auf einer Insel mitten in der Seine, umgeben von einer Festungsanlage, die aus Mauerwerk in opus cementicium und einer Holzpalisade bestand, erhob sich Parisii. In ihrem Inneren ragten die Dächer der höchsten Gebäude empor, die teils nach römischer Art mit gebrannten Dachziegeln, teils nach alter keltischer Art mit Holzschindeln und Stroh gedeckt waren.
Ambrosinus trat zu Romulus. »Auf der anderen Seite des Flusses, gegenüber dem Westufer dieser Insel, liegt der heilige Germanus begraben. Unter dem Namen Germain ist er noch heute all denen bekannt, die sein Andenken ehren.«
»Ist das der Held, der die Römer von Britannien im Kampf gegen die Barbaren im Norden anführte? Der, von dem du in deinem Tagebuch erzählst?«
»Ganz genau. Doch verfügte er über kein eigenes Heer, sondern bildete unsere Leute aus und teilte sie nach dem Vorbild alter römischer Legionen in militärische Strukturen ein, bis er an den Wunden verstarb, die er in der Schlacht davongetragen hatte.
Ich allein kenne noch seine letzten Worte und seine Prophezeiung. Also werde ich, sobald wir an Land sind, versuchen, die Stelle herauszufinden, an der er begraben liegt, um von ihm Schutz und Segen für deine Zukunft zu erbitten, Cäsar.«
Unterdessen waren die Rufe der Matrosen zu hören, die sich zum Anlegemanöver bereitmachten. Der Hafen von Parisii war bereits in der Zeit der ersten römischen Ansiedlung nach Cäsars Besetzung ausgebaut worden, und seither hatte sich kaum etwas verändert. Das Schiff mit Volusianus und den Gefährten legte am ersten der drei Anlegepiers an. Von dort wurden zwei Taue herübergeworfen, das eine am Bug und das andere am Heck, die die Ruderer nach den Befehlen des Bootsmanns ins Schiffsinnere zogen. Volusianus ging mit seinen Dienern von Bord und befahl den Fremden, ihm nachzufolgen. Daraufhin wurden die Pferde entladen, darunter auch Juba, der wild um sich schlug und sich auf jede erdenkliche Art dagegen wehrte, den Stallknechten zu folgen. Verwirrt näherte sich Ambrosinus dem Kommandanten. »General«, sagte er, »bevor wir uns verabschieden, möchten wir uns noch einmal bei dir bedanken mit der Bitte, unser Pferd wiederhaben zu dürfen. Schon morgen müssen wir Weiterreisen und ...«