»Erhöht die Geschwindigkeit, macht schon!« befahl der Barbar. »Noch können wir sie einholen.«
»Der Nebel wird immer dichter«, antwortete der Steuermann. »Es ist besser, wir warten, bis die Sonne höher steht und er sich lichtet.«
»Nein!« brüllte Wulfila, außer sich vor Zorn. »Jetzt. Wir müssen sie jetzt fassen!«
»Die Befehle erteile ich«, antwortete Gennadius. »Ich will mein Schiff nicht verlieren. Wenn sie die Absicht haben, sich umzubringen, ist das ihre Sache, aber ich werde nicht in diese Nebelbank hineinfahren. Ich denke noch nicht einmal daran. Und ich glaube auch nicht, daß sie das tun.«
Da zog Wulfila mit einer blitzartigen Bewegung sein Schwert aus der Scheide und setzte es an die Kehle des Kommandanten. »Befiehl deinen Männern, daß sie ihre Waffen niederlegen«, sagte er, »oder ich schneide dir den Hals durch. Jetzt übernehme ich das Kommando über das Schiff.«
Gennadius blieb keine Wahl, und schweren Herzens gehorchten seine Soldaten, die vom Anblick der phantastischen Waffe in der Faust des Barbaren wie geblendet waren.
»Werft alle ins Meer!« befahl Wulfila seinen Männern. »Ihr könnt dem Schicksal danken, daß ich euch nicht töte!« Dann, zu Gennadius gewandt, sagte er: »Dieser Befehl gilt auch für dich.« Er schob ihn bis an die Reling und zwang ihn, ins Wasser des Nordmeers zu springen, in dem bereits seine Männer mit den gewaltigen Wogen kämpften. Fast alle wurden von dem Gewicht ihrer Rüstungen in die Tiefe gezogen, wohl auch, weil das eiskalte Wasser ihnen die Glieder lähmte. Nun hatte Wulfila das Kommando über das Schiff übernommen. Er gebot dem zu Tode erschrockenen Steuermann, den Bug in Richtung Norden auszurichten, genau auf das Schiff zu, das jetzt in der Entfernung von einer Meile zu erkennen war und sich deutlich gegen die Nebelbank abhob, die, kompakt wie eine Mauer, immer näher kam.
An Bord des Fluchtschiffs herrschte angesichts des Nebels, der sich wie dichter Rauch spiralförmig auf dem Meer ausbreitete, höchste Bestürzung. Kein Wind wehte mehr, und Teutasius, der Steuermann, holte das Segel ein. Das Boot stand fast still.
»Unter diesen Bedingungen weiterzufahren ist Wahnsinn«, sagte er, »um so mehr, als keiner es wagen wird, eure Verfolgung aufzunehmen.«
»Das sagst du«, erwiderte Vatrenus. »Doch sieh dir einmal dieses Schiff dort hinten an. Die Ruderer treiben es direkt hinter uns her, ich fürchte wirklich, sie haben es auf uns abgesehen.«
»Um sicher zu sein, daß sie es sind, müßten wir ihnen entgegentreten«, bemerkte Orosius.
»Mir wäre lieber«, sagte Batiatus, »wir würden uns diesen sommersprossigen Bastarden stellen, als in diesem ... diesem schrecklichen Ding zu versinken. Es kommt mir vor, als stiegen wir direkt in die Unterwelt hinab.«
»Im Grunde haben wir das in Miseno schon einmal getan«, gab Vatrenus zu bedenken.
»Ja, aber damals wußten wir, daß es nur eine sehr kurze Zeit andauerte«, entgegnete Aurelius. »Hier dagegen haben wir es mit einer Fahrt von etlichen Stunden zu tun.«
»Sie sind es!« schrie Demetrios, der den Mast bis zur Spitze emporgeklettert war.
»Bist du dir sicher?« fragte Aurelius.
»Natürlich! Und in etwa einer halben Stunde werden sie uns eingeholt haben.«
Ambrosinus, der in seine Gedanken versunken schien, raffte sich plötzlich auf. »Haben wir Öl an Bord?«
»Öl?« fragte der Steuermann verblüfft. »Ich glaube ... ich glaube, ja, aber nur wenig. Die Männer nehmen es für ihre Laternen her.«
»Bring sofort die größte Schale, die du hast, und dann mach dich zur Weiterfahrt bereit. Wir werden jetzt rudern.«
»Gib ihm, was er von dir verlangt«, sagte Aurelius. »Er weiß, was er tut.«
Der Mann ging unter Deck und kam wenig später mit einer irdenen Schüssel zurück, die halb mit Öl gefüllt war. »Das ist alles, was ich gefunden habe«, sagte er.
»Sie kommen näher!« rief Demetrios erneut vom Mast herunter.
»Ist gut«, sagte Ambrosinus zustimmend, »das reicht. Stell die Schale aufs Deck, und dann geh ans Steuer zurück. Auf mein Zeichen setzen sich alle kräftigen Männer an die Riemen.« Nach diesen Worten entnahm er seinem Quersack ein Wachstäfelchen, das er sonst für seine Notizen benutzte, riß die äußere Pergamenthülle ab und zog unter den erstaunten Augen der Umstehenden ein pfeilförmiges Plättchen aus Metall hervor, so leicht, daß der Wind es hätte davontragen können. Dieses Plättchen legte er auf die Oberfläche des Öls.
»Schon einmal von Aristeas von Prokonnesos gehört?« fragte er. »Nein, natürlich nicht. Nun gut, die Alten sagten, er habe einen Pfeil gehabt, der ihn über viele Jahre ins Land der Hyperboreer dort im fernen Norden brachte. Das hier ist dieser Pfeil. Er wird uns den Weg nach Britannien zeigen. Wir brauchen ihm nur zu folgen.«
Unter den immer erstaunteren Augen seiner Gefährten begann sich der Pfeil zu bewegen und drehte sich so lange auf der Öloberfläche, bis er stehenblieb und beständig in eine Richtung zeigte.
»Da ist Norden«, erklärte Ambrosinus feierlich. »Männer, an die Riemen!«
Alle gehorchten, das Schiff setzte sich in Bewegung und tauchte langsam in die milchige Wolke ein.
Romulus kauerte derweil neben seinem Meister, der inzwischen am Schalenrand eine Kerbe einschnitt, genau an der Stelle, die mit der vom Pfeil bezeigten Richtung übereinstimmte.
»Wie ist das möglich?« fragte Romulus. »Besitzt dieser Pfeil vielleicht Zauberkräfte?.«
»Das glaube ich sicher«, antwortete Ambrosinus. »Eine andere Erklärung wüßte ich jedenfalls nicht.«
»Und wo hast du ihn her?«
»Ich habe ihn vor ein paar Jahren in den unterirdischen Gewölben des Portunustempels in Rom gefunden. In einer Tuffsteinurne. Eine griechische Inschrift besagte, daß dies der Pfeil des Aristeas von Prokonnesos sei, den auch Pytheas von Massilia benutzt habe, um Thule zu finden. Ist das nicht unglaublich?
»Das ist es«, antwortete Romulus. Und dann fügte er noch hinzu: »Meinst du, daß sie uns verfolgen?«
»Das glaube ich nicht, da sie keine Möglichkeit haben, den Kurs zu halten. Und außerdem ...«
»Außerdem?« unterbrach ihn Romulus.
»Die Mannschaft besteht aus Leuten dieser Gegend. Und hier macht eine Geschichte die Runde, die ihnen große Angst einjagt.«
»Welche Geschichte?«
»Daß hier der Nebel nur deshalb so dicht ist, damit er das Schiff verbirgt, das von der Toteninsel zurückkehrt, wo es die Seelen der Verstorbenen hingebracht hat.«
Während Romulus sich umsah und dabei versuchte, die dicke Nebelwand zu durchdringen, lief ihm ein Schauer über den Rücken.
XXXII
Romulus zog den Umhang noch fester um die Schultern, während er seine Augen wie gebannt auf die winzigen Bewegungen des hin-und herschwingenden Pfeils richtete, der auf dem Öl schwamm und auf geheimnisvolle Weise den Pol des Großen Bären anzeigte.
»Hast du gesagt, die Insel der Toten?« fragte er unvermittelt.
Ambrosinus lächelte. »Das habe ich gesagt. Die Leute hier haben große Angst davor.«
»Ich verstehe das nicht, ich dachte, die Toten gingen ins Jenseits.«
»Das ist es, was wir alle glauben. Aber weißt du, da nie jemand aus dem Totenreich zurückkehrte und erzählte, was er dort beobachtet hat, macht sich jedes Volk seine eigenen Vorstellungen von dieser geheimnisvollen Welt. Und in dieser Gegend hier heißt es, daß es an der Küste von Armorica ein Fischerdorf gäbe, dessen Einwohner weder Steuern zahlen noch Tribut leisten müssen, da sie eine sehr wichtige Aufgabe zu erfüllen haben. Sie setzen die Seelen der Verstorbenen auf eine geheimnisvolle Insel über, die von ewigen Nebeln bedeckt ist. Der Name dieser Insel ist angeblich Avalon. Jede Nacht hört man, wie an die Tür eines der Häuser in diesem Ort geklopft wird und eine leise Stimme sagt: >Wir sind bereit.< Dann steht der Fischer auf und geht zum Strand, wo er sein scheinbar leeres Boot so tief im Wasser liegen sieht, als werde es von einer schweren Last niedergedrückt. Und dieselbe Stimme, die er zuvor hörte, ruft nun jeden einzelnen Verstorbenen bei seinem Namen. Bei den Frauen wird übrigens auch der Name des Vaters oder Ehemanns genannt. Dann setzt sich der Fischer ans Steuer und setzt das Segel. In der nebeligen Dunkelheit legt er im Lauf einer Nacht eine Strecke zurück, für die jeder andere allem für den Hinweg eine volle Woche benötigte. In der folgenden Nacht klopft es dann an eine andere Tür, und dieselbe Stimme sagt: >Wir sind bereit. <«