«Olga? Ja, natürlich. «Die Frau hinter der Theke deutete auf den Eingang des Lesesaals.»Olga ist im Saal dahinter.«
So einfach war das also gewesen. Robert durchquerte den Lesesaal, in dem an langen Tischen eifrig lernende Studenten saßen. In dem kleineren Raum dahinter erblickte er eine Frau, die damit beschäftigt war, Bücher von einem Wagen in die Regale zurückzustellen.
«Entschuldigung«, sagte Robert.
Sie drehte sich um.»Ja?«
«Olga?«
«Ich bin Olga. Was wollen Sie von mir?«
Robert lächelte entwaffnend.»Ich schreibe einen Zeitungsartikel über die Auswirkungen der Perestrojka auf russische Durchschnittsbürger. Hat sie Ihr Leben sehr verändert?«
Die Frau zuckte mit den Schultern.»Vor Gorbatschow haben wir nicht gewagt, den Mund aufzumachen. Jetzt dürfen wir den Mund aufmachen — aber wir haben nichts, was wir reinstecken könnten.«
«Aber einiges hat sich doch bestimmt zum Besseren verändert. Beispielsweise dürfen Sie jetzt reisen.«
«Soll das ein Witz sein? Welche Familie mit vier Kindern kann sich eine Reise leisten?«
Er ließ nicht locker.»Trotzdem sind Sie in der Schweiz gewesen und.«
«In der Schweiz? Ich bin noch nie im Ausland gewesen!«
Robert starrte sie an.»Sie sind noch nie in der Schweiz gewesen?«fragte er langsam.
«Wenn ich’s Ihnen doch sage!«Sie nickte zu einer dunkelhaarigen Kollegin hinüber, die mit einem weiteren Bücherwagen hereinkam.»Das ist die Glückliche, die eine Schweizreise gemacht hat!«
Rasch sah er zu ihr hinüber.»Wie heißt sie?«
«Olga. Genau wie ich. Olga Romantschenko.«
Robert seufzte erleichtert.»Vielen Dank.«
Eine Minute später unterhielt Robert sich mit der zweiten Olga über ihre Reise in die Schweiz. Bald hatte er das Gespräch auf die Busrundfahrt und den Absturz des merkwürdigen Flugobjekts gelenkt, der Olga immer noch sehr beschäftigte.
«Sind Sie bei der Rundfahrt auch mit Ihren Reisegefährten ins Gespräch gekommen?«
«O ja! Sie waren alle sehr freundlich. Ich habe sogar einen Mann aus Washington kennengelernt.«
«Wirklich?«
«Ja. Er war sehr nett. Ich weiß sogar noch seinen Namen: Kevin Parker. Er spielt in der Politik eine wichtige Rolle. Er sagt Senatoren, wie sie abstimmen müssen.«
Robert war verblüfft.»Hat er Ihnen das erzählt?«
«Ja. Er lädt sie zu Reisen ein und macht ihnen Geschenke, und sie stimmen dann so ab, wie seine Klienten es wünschen. So funktioniert die Demokratie in Amerika.«
Ein Lobbyist. Robert ließ Olga noch eine Viertelstunde erzählen, doch sie konnte ihm keine weiteren nützlichen Informationen über die anderen Fahrgäste geben.
«General Hilliard? Ich habe die russische Zeugin aufgespürt. Sie heißt Olga Romantschenko und arbeitet in der Stadtbibliothek Kiew.«
«Gut, ich sorge dafür, daß die sowjetischen Stellen sich mit ihr befassen.«
BLITZMELDUNG
TOP SECRET ULTRA NSA AN DIREKTOR GRU PERSÖNLICH 1. AUSFERTIGUNG VON 1 AUSFERTIGUNG(EN)
BETREFF: OPERATION DOOMSDAY
8. OLGA ROMANTSCHENKO — KIEW TEXTENDE
An diesem Nachmittag flog Robert Bellamy mit einer Iljuschin I1-82 der Aeroflot nach Paris. Dort stieg er in eine Maschine der Air France nach Washington um.
Gegen zwei Uhr nachts schreckte Olga Romantschenko aus dem Schlaf auf und horchte. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht: Jemand pochte heftig gegen ihre Wohnungstür. Hastig stand sie auf und lief in den Vorraum ihrer winzigen Wohnung.»Wer ist da«, rief sie ängstlich.
«Genossin Olga Romantschenko?«fragte eine Männerstimme.
«Ja.«
«Glawnoje Raswediwatelnoje Uprawlenije.«
Die gefürchtete GRU.
Zitternd öffnete sie die Tür. Vor ihr standen zwei bullige Männer in Zivil. Sie drängten sich an ihr vorbei in die Wohnung.
«Was… was wollen Sie von mir?«
«Wir stellen hier die Fragen. Ich bin Juri Gromkow. Das hier ist Wladimir Semski.«
Sie fühlte eine kalte Hand nach ihrem Herzen greifen.»Was wollen Sie von mir? Was hab’ ich getan?«
Semski ging sofort darauf ein.»Aha, Sie wissen also, daß Sie was verbrochen haben!«
«Nein, natürlich nicht«, widersprach Olga verwirrt.»Ich weiß nicht, weshalb Sie hier sind.«
«Sie sind gerade von einer Reise in die Schweiz zurückgekommen, stimmt’s?«
«J-j-ja«, stotterte sie,»aber es… war alles legal… ich hab’ alle Papiere gehabt.«
«Spionage ist nicht legal, Genossin Romantschenko.«
«Spionage?«fragte Olga fassungslos.»Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden!«
Gromkow starrte schweigend auf ihren Körper. Olga wurde plötzlich bewußt, daß sie nur ein dünnes Nachthemd trug.
«Los, mitkommen!«
«Aber wohin denn?«
«Zum Verhör in die Zentrale.«
Olga durfte einen Mantel über ihr Nachthemd ziehen. Dann wurde sie die Treppe hinuntergestoßen und in eine schwarze Tschaika-Limousine geschoben. Sie dachte an all die Menschen, die in solchen Limousinen weggebracht worden waren, um nie mehr zurückzukehren, und war wie gelähmt vor Angst.
Gromkow setzte sich ans Steuer, während Semski neben Olga auf dem Rücksitz Platz nahm.
«Bitte glauben Sie mir«, sagte Olga in flehentlichem Ton.»Ich würde mein Land niemals.«»Maul halten!«blaffte Gromkow sie an.
«Warum bist du so grob zu ihr?«fragte Semski.»Ich glaube ihr, wenn du’s genau wissen willst.«
Olga begann neue Hoffnung zu schöpfen.
«Die Zeiten haben sich geändert«, fuhr Semski fort.»Genosse Gorbatschow will nicht, daß wir rumlaufen und Unschuldige belästigen.«
«Wer sagte, daß sie nicht schuldig ist?«knurrte Gromkow.»Vielleicht ist sie’s, vielleicht auch nicht. Beim Verhör in der Zentrale stellt sich das ganz schnell raus.«
«Red’ keinen Unsinn, Juri!«widersprach Semski.»Du weißt genau, daß sie in der Zentrale ein Geständnis unterschreiben wird — egal, ob sie nun schuldig ist oder nicht. Das gefällt mir nicht.«
«Dann hat sie eben Pech gehabt. Wir können nichts dagegen tun.«
«Doch, das könnten wir!«
«Was denn?«
Der Mann neben Olga schwieg einen Augenblick.»Hör zu, Juri«, sagte er dann.»Warum lassen wir sie nicht einfach laufen? Wir könnten behaupten, sie sei nicht zu Hause gewesen. Wir halten die Kollegen ein, zwei Tage hin, und dann ist ihr Fall vergessen, weil sie so viele andere Leute zu vernehmen haben.«
Olga versuchte etwas zu sagen, aber ihre Kehle war wie ausgedörrt. Sie hoffte inständig, der Mann neben ihr würde den anderen überzeugen können.
«Wozu sollen wir unseren Hals für sie riskieren?«brummte Gromkow.»Was haben wir davon? Womit will sie sich revanchieren?«
Semski warf Olga einen fragenden Blick zu. Sie schluckte.»Geld hab’ ich keines«, flüsterte sie heiser.
«Wer braucht dein Geld? Geld haben wir selbst reichlich.«
«Sie hat was anderes«, warf Gromkow ein.
«Augenblick, Juri!«protestierte Semski, bevor Olga antworten konnte.»So was kannst du nicht von ihr erwarten.«
«Das muß sie selbst entscheiden. Entweder sie ist nett zu uns, oder sie landet in der Zentrale. Vielleicht kriegt sie dort ‘ne besonders hübsche Schiso.«
Was Schisos waren, wußte Olga: unbeheizte winzige Einzelzellen mit einer Holzpritsche ohne Decken. >Nett zu uns sein…< Was meinte er damit?
Semski wandte sich an Olga.»Also, was ist dir lieber?«
«Ich… ich verstehe nicht, was er meint.«
«Mein Kollege will damit sagen, daß wir deinen Fall vergessen könnten, wenn du nett zu uns bist. Nach einiger Zeit würde kein Mensch mehr daran denken.«
«Was. was müßte ich dafür tun?«