Überdies habe ich mich überzeugt. Beim Hinausgehen stolperte ich und packte den gichtischen Fuß, um mich festzuhalten. Der gute Mann war von meinen Ausführungen so verstört, daß er es nicht einmal bemerkt hat. O ja, der General ist sehr ‹talmi›. Tout de même ist die Idee nicht schlecht. Der pensionierte, anglo-indische General, die wohlbekannte Lustspielfigur mit einer kranken Galle und einem cholerischen Temperament, er läßt sich nieder – aber nicht inmitten anderer pensionierter Offiziere – o nein, er geht in ein Milieu, das für den gewöhnlichen pensionierten Offizier viel zu teuer ist. Aber hier sind reiche Leute, Leute aus London – ein ausgezeichneter Markt für seine Ware. Und wer würde vier lebenslustige, hübsche junge Mädchen verdächtigen? Wenn irgend etwas herauskommt, wird man sie für die Opfer halten – das ist gewiß!»
«Was hatten Sie eigentlich im Sinn, als Sie den alten Hund aufgesucht haben? Wollten Sie ihm Angst einjagen?»
«Ja, ich wollte sehen, was geschieht. Ich mußte lange warten. Die Mädchen bekamen ihre Instruktionen. Antony Hawker, in Wirklichkeit eines ihrer Opfer, sollte der Sündenbock sein. Sheila sollte mir von der Feldflasche in der Halle sagen. Sie konnte es fast nicht über sich bringen, es zu tun – aber das andere Mädchen zischte zornig ‹Sheila›, und da stammelte sie es hervor.»
Michael Stoddart stand auf und durchmaß das Zimmer.
«Wissen Sie, ich habe nicht die Absicht, dieses Mädchen aus den Augen zu verlieren. Ich habe eine ganz gesunde Theorie über diese verbrecherischen Neigungen Jugendlicher. Wenn man in das Familienleben Einblicke gewinnt, findet man fast immer –»
Poirot unterbrach ihn.
Er sagte:
«Mon cher, ich habe den größten Respekt vor Ihrer Wissenschaft. Ich zweifle nicht, daß Ihre Theorien sich im Fall der kleinen Sheila bewähren werden.»
«Bei den anderen auch.»
«Bei den anderen vielleicht. Es kann sein. Die einzige, bei der ich überzeugt bin, ist die kleine Sheila. Sie werden Sie zähmen, das ist klar. In Wirklichkeit frißt sie schon aus Ihrer Hand …»
«Welchen Unsinn Sie reden können, Poirot», wehrte Michael Stoddart errötend ab.
9. Der Gürtel der Hippolyta
Eines führt zum anderen, wie Hercule Poirot ohne Anspruch auf Originalität so gerne sagt.
Der beste Beweis dafür, fügte er hinzu, war der Fall des gestohlenen Rubens.
Er hatte sich nie sehr für diesen Rubens interessiert. Erstens ist er kein Bewunderer von Rubens, und zweitens waren die Umstände des Diebstahls sehr banal. Er übernahm den Fall, um seinem Freund Alexander Simpson gefällig zu sein, und aus gewissen privaten Gründen, die nicht ohne Zusammenhang mit der griechischen Mythologie waren. Nach dem Diebstahl ließ Alexander Simpson Poirot kommen und schüttete ihm sein Herz aus. Der Rubens war eine Entdeckung jüngsten Datums, ein bis dahin unbekanntes Meisterwerk, aber seine Echtheit wurde nicht angezweifelt. Er war in der Galerie Simpson ausgestellt gewesen und bei hellichtem Tag gestohlen worden. Es war zur Zeit, als die Arbeitslosen die Taktik verfolgten, sich an Straßenkreuzungen niederzulegen und ins Ritz einzudringen. Eine kleine Gruppe von ihnen war in die Galerie Simpson eingedrungen und hatte sich dort mit groß aufgemachten Schlagworten wie: ‹Kunst ist Luxus, Nährt die Hungrigen› niedergelassen. Man hatte die Polizei geholt, die Neugierigen hatten sich in Scharen eingefunden, und erst nachdem die Demonstranten durch den Arm des Gesetzes mit Gewalt entfernt worden waren, bemerkte man, daß der Rubens sauber aus dem Rahmen geschnitten und ebenfalls entfernt worden war.
«Es ist ein ganz kleines Bild, wissen Sie», erklärte Mr. Simpson.«Ein Mann konnte es unter den Arm nehmen und sich damit fortmachen, während alles diese unglücklichen Idioten von Arbeitslosen anstarrte.»
Die besagten Arbeitslosen, stellte sich heraus, waren für ihre unschuldige Rolle bei dem Raub bezahlt worden. Man hatte sie beauftragt, in der Galerie Simpson zu demonstrieren, aber sie hatten den wahren Grund erst nachträglich erfahren.
Hercule Poirot fand den Trick nicht schlecht, sah aber nicht recht, was er in dem Fall Besonderes leisten sollte. Er wies darauf hin, daß man sich auf die Polizei verlassen könne, einen glatten Raub aufzudecken.
Alexander Simpson sagte:
«Hören Sie mich an, Poirot. Ich weiß, wer das Bild gestohlen hat und wo es hingeht.» Nach Ansicht des Besitzers der Galerie Simpson war das Bild von einer internationalen Verbrecherbande für einen bestimmten Millionär gestohlen worden, der keineswegs darüber erhaben war, Kunstwerke zu einem erstaunlich billigen Preis zu kaufen – und keinerlei Fragen zu stellen! Der Rubens, meinte Simpson, würde nach Frankreich geschmuggelt werden, um dort in den Besitz des Millionärs überzugehen. Die englische und französische Polizei waren alarmiert worden, aber Simpson hatte kein allzu großes Vertrauen in sie. «Und wenn es einmal in den Besitz von diesem Kerl übergegangen ist, wird alles viel schwieriger sein. Reiche Leute müssen mit Respekt behandelt werden. Deshalb habe ich mich an sie gewendet. Sie sind der Mann dafür.» Schließlich willigte Poirot, wenn auch ohne Begeisterung, ein, den Fall zu übernehmen, und erklärte sich bereit, sich nach Frankreich zu begeben.
Die Sache interessierte ihn nicht sonderlich, aber durch sie wurde ihm der Fall des vermißten Schulmädchens übergeben, der ihn dagegen sehr interessierte.
Er hörte zuerst davon durch Oberinspektor Japp, der ihn gerade aufsuchte, als er seinen Diener für das gute Einpacken lobte.
«Also», sagte Japp, «Sie fahren nach Frankreich, nicht wahr?»
«Mon cher, ihr seid in Scotland Yard unglaublich gut informiert», giftete Poirot.
Japp kicherte.
«Wir haben unsere Spione. Simpson hat Sie auf diese Rubensgeschichte gehetzt. Er traut uns scheinbar nicht. Nun, das gehört nicht hierher, aber ich will etwas ganz anderes von Ihnen.
Da Sie ohnedies nach Paris fahren, könnten Sie zwei Fliegen auf einen Schlag töten. Detektivinspektor Hearn ist drüben, um mit den Franzosen zusammenzuarbeiten – Sie kennen ihn doch? Ein anständiger Kerl – aber ohne Phantasie. Ich möchte Ihre Meinung über die Sache hören.»
«Von welcher Sache sprechen Sie eigentlich?»
«Ein Schulmädchen ist verschwunden. Es wird heute in den Abendblättern stehen. Sieht aus, als wäre es in die Finger eines Kidnappers geraten. Tochter eines Kanonikus von Grantchester. King heißt sie, Winnie King.»
Er fuhr mit der Geschichte fort.
Winnie war auf dem Weg nach Paris gewesen, in Miss Popes exklusives Pensionat für junge Engländerinnen und Amerikanerinnen. Winnie war mit dem Frühzug von Grantchester nach London gekommen. An der Station hatte sie ein Mitglied der «Älteren Schwesternvereinigung», die solche Aufgaben übernimmt, abgeholt und an den Viktoria-Bahnhof gebracht und dort Miss Burshaw, Miss Popes Stellvertreterin, übergeben.
Winnie hatte mit achtzehn anderen jungen Mädchen den Viotoria-Bahnhof mit dem Zug nach Dover verlassen. Neunzehn Mädchen hatten den Kanal überquert, den Zoll in Calais passiert, den Pariser Zug bestiegen und im Speisewagen geluncht.
Aber als Miss Burshaw in den Vororten von Paris die Häupter ihrer Schutzbefohlenen zählte, entdeckte man, daß nur achtzehn Mädchen da waren.
«Aha», Poirot nickte. «Ist der Zug irgendwo stehen geblieben?»
«In Amiens, aber um diese Zeit waren die Mädchen im Speisewagen, und sie erklärten einstimmig, daß Winnie damals noch mit ihnen war. Sie haben sie sozusagen auf dem Rückweg in ihre Abteile verloren. Das heißt, sie kam nicht mit den anderen fünf in ihr eigenes Abteil zurück. Die Mädchen dachten nicht, daß das etwas zu bedeuten habe, sie dachten einfach, daß sie in einem der übrigen reservierten Abteile sei.»