Poirot hob die Augenbrauen.
«Hat sie ihn getroffen?»
«Keine Spur! Die Kugel ging etliche Meter daneben, schätze ich. Aber sie traf einen armen Teufel, der hier in der Gasse herumgelungert ist, um die Mülleimer zu durchwühlen. Natürlich schlug er einen Höllenlärm, die Menge drängte ihn hier herein und bei all dem Blut, das er verlor, bekamen sie es mit der Angst zu tun und holten mich.»
«Ja?» «Ich habe ihn zusammengeflickt. Es war nichts ernstes. Dann haben ihn ein oder zwei Männer bearbeitet, und schließlich hat er eingewilligt, ein Paar Fünfpfundscheine anzunehmen und zu schweigen. Es hat ihm sehr gut gepaßt, dem armen Teufel.
Für ihn war es ein Haupttreffer.»
«Und Sie?»
«Ich mußte mich noch weiter betätigen. Mrs. Grace selbst hatte um diese Zeit bereits einen hysterischen Anfall. Ich gab ihr eine Spritze und steckte sie ins Bett. Dann war noch ein anderes Mädchen da, die mehr oder weniger erledigt war – ganz jung – und um die habe ich mich auch gekümmert. Um diese Zeit stahlen sich schon alle fort, so schnell sie konnten.» Er machte eine Pause.
«Und dann», fuhr Poirot weiter, «hatten Sie Zeit, über die Situation nachzudenken.»
«Stimmt», pflichtete Stoddart bei. «Wäre es eine gewöhnliche Sauferei gewesen, so wäre es damit erledigt, aber Opiate sind etwas anderes.»
«Sind Sie Ihrer Sache ganz sicher?»
«Oh, absolut. Das ist nicht zu verkennen. Es ist zweifellos Kokain. Ich fand übrigens etwas davon in einer Lackdose – sie schnupfen es auf, wissen Sie. Die Frage ist, woher kommt es? Ich erinnere mich, daß sie neulich von einer großen neuen Welle des Rauschgiftschmuggels und einer Zunahme der Kokainisten gesprochen haben.»
Hercule Poirot nickte. «Die Polizei wird sich für dieses heutige Fest interessieren.»
Michael Stoddart sagte mit einem unglücklichen Gesicht: «Das ist es ja eben … » Poirot blickte ihn mit plötzlich erwachendem Interesse an. «Und Ihnen liegt nichts daran, daß die Polizei sich für die Sache interessiert?» Michael Stoddart brummte undeutlich: «Unschuldige Menschen werden in Dinge verwickelt … schwer für sie.»
«Sind Sie so besorgt um Mrs. Patricia Grace?»
«Du liebe Zeit, nein. Sie ist eine von den ganz hartgesottenen!»
Hercule Poirot fügte milde hinzu:
«Also handelt es sich um die andere – das junge Mädchen?»
«Natürlich ist sie auf ihre Art auch hartgesotten», gab Stoddart zu. «Ich meine, sie hält sich dafür. Aber sie ist in Wirklichkeit nur sehr jung – ein bißchen ausgelassen und all das – aber im Grunde ist es nur Kinderei. Sie macht bei so einem Trubel mit, weil sie glaubt, daß es schick oder modern oder so etwas ist.»
Ein leichtes Lächeln umspielte Poirots Lippen. Er sagte leise: «Haben Sie dieses junge Mädchen schon vor dem heutigen Abend gekannt?» Michael Stoddart nickte. Er sah sehr jung und verlegen aus. «Ich habe sie in Mertonshire auf einem Jagdball kennengelernt. Ihr Vater ist ein pensionierter General – Donner und Blitz, schießt sie alle nieder – Pukka Sahib – und all das Zeug. Es sind vier Töchter, und alle sind ein wenig hemmungslos – kein Wunder bei einem solchen Vater. Und die Umgebung, in der sie leben, ist auch nicht gut – Rüstungsindustrie in der Nachbarschaft, viele Parvenüs – nichts von der früheren Atmosphäre der guten Gesellschaft – die Leute schwimmen in Geld, sind aber zum Teil recht verdorben. Die Mädchen sind in ein schlechtes Fahrwasser geraten.»
Hercule Poirot blickte ihn eine Weile nachdenklich an, dann meinte er:
«Ich sehe jetzt, weshalb Sie meine Gesellschaft gewünscht haben. Sie möchten, daß ich die Sache in die Hand nehme?»
«Würden Sie es tun? Ich habe das Gefühl, daß ich etwas unternehmen sollte – aber ich gestehe, daß ich Sheila Grant wenn möglich vor einem Skandal bewahren möchte.»
«Ich glaube, das läßt sich machen. Ich möchte die junge Dame gerne sehen.»
«Kommen Sie mit.»
Er führte ihn aus dem Zimmer heraus. Eine Stimme rief kläglich aus einer gegenüberliegenden Tür: «Doktor – um Himmels willen, Doktor, ich werde verrückt.» Stoddart ging in das Zimmer, Poirot folgte ihm. Es war ein Schlafzimmer in völlig chaotischem Zustand – Puder war auf dem Boden ausgestreut – Tiegel und Flakons standen überall herum, Kleider lagen achtlos hingeworfen auf dem Boden. Auf dem Bett lag eine Frau mit platinierten Haaren und einem leeren, lasterhaften Gesicht. Sie rief: «Ameisen kriechen mir über den ganzen Körper … bestimmt. Ich schwöre es. Ich werde toll – Um Himmels willen geben Sie mir eine Spritze oder irgend etwas!» Dr. Stoddart stand am Bettrand. Sein Ton war berufsmäßig beschwichtigend. Hercule Poirot schlich sich aus dem Zimmer. Ihm gegenüber war noch eine Tür. Er öffnete sie. Es war ein winziges Zimmer – eine bloße Kammer – ganz einfach eingerichtet. Auf dem Bett lag regungslos eine zarte, mädchenhafte Gestalt. Hercule Poirot schlich auf Zehenspitzen an den Bettrand und blickte auf das junge Mädchen herab.
Dunkles Haar, ein längliches, blasses Gesicht – und – jung, ja, sehr jung …
Ein schmaler weißer Streifen schimmerte zwischen ihren Lidern.
Ihre Augen öffneten sich, erschreckte, ängstliche Augen. Sie starrte ihn an, setzte sich auf und warf den Kopf zurück in dem Bemühen, die dichte Mähne blauschwarzen Haares zurückzuwerfen. Sie sah aus wie ein verschrecktes Fohlen und wich ein wenig zurück, wie ein wildes Tier zurückweicht, wenn es einem Fremden mißtraut, der ihm Futter reicht.
Sie begann zu sprechen – und ihre Stimme klang jung, dünn und schroff: «Wer, zum Teufel, sind Sie?»
«Fürchten Sie sich nicht, Mademoiselle.»
«Wo ist Dr. Stoddart?» In diesem Augenblick kam der junge Mann in das Zimmer – das Mädchen seufzte erleichtert: «Oh, da sind Sie. Wer ist das?»
«Das ist ein Freund von mir, Sheila. Wie fühlen Sie sich jetzt?»
Das Mädchen klagte: «Elend, lausig … Warum habe ich nur das abscheuliche Zeug genommen?» Stoddart sagte trocken: «Ich würde es an Ihrer Stelle nicht mehr tun.»
«Ich – ich werde es auch nicht mehr tun.»
Hercule Poirot schaltete sich ein. «Wer hat es Ihnen gegeben?»
Ihre Augen weiteten sich. Ihre Oberlippe zuckte ein wenig.
«Es war hier – auf dem Fest. Wir haben es alle gekostet. Es – es war zuerst wundervoll.»
Hercule Poirot forschte sanft:
«Aber wer hat es hereingebracht?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Ich weiß nicht … Vielleicht Tony Hawker. Aber ich weiß wirklich nichts darüber.»
Poirot fragte weiter:
«Ist es das erstemal, daß Sie Kokain genommen haben, Mademoiselle?»
Sie nickte.
«Lassen Sie es lieber das letztemal sein», warf Stoddart barsch ein.
«Ja, Sie haben recht – aber es war wunderbar.»
«Hören Sie mich an, mein Kind», sagte Stoddart. «Ich bin Arzt und weiß, wovon ich rede. Wenn Sie einmal mit Opiaten anfangen, werden Sie in eine unglaubliche Misere geraten. Ich habe genügend Fälle gesehen und weiß es. Opiate richten die Menschen körperlich und seelisch zugrunde. Trinken ist ein Kinderspiel dagegen. Machen Sie von jetzt an Schluß damit. Glauben Sie mir, es ist kein Spaß! Was, glauben Sie, würde Ihr Vater sagen, wenn er die Geschichte von heute nacht wüßte?»
«Vater?» Sheila Grants Stimme wurde schrill. «Vater?» Sie begann zu lachen. «Ich sehe Vaters Gesicht vor mir! Er darf nichts davon erfahren. Er würde toben!»
«Und mit vollem Recht», sagte Stoddart.
«Doktor – Doktor –» jammerte Mrs. Grace in dem anderen Zimmer.
Stoddart brummte etwas wenig Schmeichelhaftes und ging hinaus.
Sheila Grant starrte Poirot wieder an. Sie zerbrach sich offenbar den Kopf.