Bernhard Hennen
Drachenelfen:
Die letzten Eiskrieger
Für die Lotusblüte im Verborgenen
Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Menschen macht, als er deren wegnimmt.
Erstes Buch
Das Traumeis
Prolog
Die Lider waren ihm schwer. Seit drei Nächten hatte er keinen Schlaf gefunden. Müde beobachtete er, wie der junge Morgen den Himmel in Flammen setzte. Glutrote Wolken flossen um die schroffen Bergspitzen. Schwer wie nie spürte er die Bürde der Macht. Die Alben hatten es aufgegeben, um die Welt, die sie erschaffen hatten, zu kämpfen, und unter seinen Brüdern herrschten Misstrauen und Zwietracht. Die Himmelsschlangen sollten der Schutzwall Albenmarks sein, doch es war eine Mauer mit tiefen Rissen.
Der Drache streckte sich, dass seine Gelenke krachten. Er war so alt wie die Welt, über die er mit seinen Nestbrüdern wachte. Manchmal hatte er das Gefühl, Albenmark bedeutete nur ihm noch etwas. Rastlos hatte er die Zukunft erkundet. So viele Wege führten ins Dunkel. Er hatte gesehen, wie Burgen, erbaut von Menschenkindern, die Pässe der Mondberge beherrschten. Eine Fahne, die einen toten, schwarzen Baum vor weißem Hintergrund zeigte, hatte über den Zinnen geweht. Die Kinder der Alben waren aus der Welt verschwunden. Ihre Welt war entzaubert worden. Wie hatte es so weit kommen können?
Sooft er auch die Zukunft erforschte, vermochte er nicht zu entdecken, wo in der Gegenwart die Wurzel des Unheils lag. War es jener Unsterbliche, der weiser plante als alle anderen und dem es sogar gelingen mochte, die Devanthar dazu zu bringen, nach seinem Willen zu handeln? Oder war es Nandalee, die Drachenelfe, die gegen die hergebrachte Ordnung aufbegehrte? Drei Kinder wuchsen in ihr heran, von denen sie nur zwei gebären würde. Und doch beeinflussten sie alle die Zukunft von Menschen und Albenkindern. Dies war eines von vielen Rätseln, die er nicht verstand.
Der flammende Himmel ermahnte ihn, dass er handeln musste und nicht nur beobachten und brüten durfte. Einmal waren die Devanthar ihnen entwischt, als Nandalee und Gonvalon versagt hatten. Nun galt es, den Göttern der Menschenkinder erneut eine Falle zu stellen. Nur der vereinte Flammenodem der Himmelsschlangen würde sie vernichten. Es war die stärkste Waffe, die auf allen drei Welten existierte. Und sie war nicht nur dazu geschaffen, mit ihr zu drohen. Sie mussten sie einsetzen, bevor die Devanthar eine ähnlich starke Waffe ersinnen würden. Der Krieg zwischen den beiden großen Mächten war unabwendbar geworden. Es würde unzählige Tote geben. Städte, gar ganze Landstriche würden verwüstet werden. Doch die Zeit zu verhandeln war vorüber. Zu unterschiedlich waren die Ziele, nach denen Albenmark und Daia strebten. Siegen würde derjenige, der den Mut hatte, zuerst zuzuschlagen. Auch wenn es ohne Zweifel ein bitterer Sieg sein würde.
Der alte Drache weitete die Schwingen. Er genoss die Wärme des ersten Morgenlichts auf seinem Leib. Mit List und Intrige würde es beginnen. Dies waren fast genauso tödliche Waffen wie der Odem der Himmelsherrscher. Doch zuletzt würden Feuer und Schwert entscheiden. Er stieß sich vom Felsen ab und flog dem glutroten Morgen entgegen. Die Zeit zu kämpfen war gekommen.
Am Rand der Klippe
Nevenylls Klippe galt als ein verfluchter Ort. Niemand kam bei Nacht hierher. Und schon gar nicht bei Vollmond, wenn die Macht der Geister am größten war. Es war der einsamste Ort bei Uttika, und deshalb liebte Bidayn ihn. Tagsüber war sie das Kindermädchen, das nach den beiden Töchtern des Kaufherren Shanadeen sah. Niemand ahnte, was sie in Wirklichkeit war. Man kannte sie nur als eine scheue Elfe unbestimmbaren Alters, die niemandem in die Augen sah und sich stets in jungfräuliches Weiß kleidete, obwohl ihre Haut bereits zu welken begann, was bedeutete, dass schon Jahrhunderte an ihr vorübergezogen sein mussten.
Bidayn stand auf dem steilen Kreidefelsen und blickte hinab auf das Meer. Der Mond zauberte ein Netz silbernen Lichts über die dunkle See. Weit im Westen zeichnete sich die Silhouette eines Seglers gegen den Horizont ab, der den Leuchtfeuern des Hafens von Uttika entgegenstrebte. Die nächtliche Brise griff nach Bidayns hauchzartem, weit geschnittenem ärmellosen Kleid. Sie liebkoste ihre alternde Haut. So schnell hatte sie ihre geschmeidige Spannkraft verloren. Bidayn hatte gehofft, einige Jahre mit der Menschenhaut leben zu können. Doch wie alle ihre Hoffnungen war auch diese zerbrochen. Sie müsste bald etwas unternehmen … Wen sollte sie töten? Eines der jungen Mädchen, die Shanadeen ihr anvertraut hatte?
Donnernd brach sich eine Welle am Fuß der Klippe. Die Elfe sah erneut hinab in die sprühende Gischt, deren weiße Finger den knochenbleichen Fels hinaufgriffen. Sollte sie ihrem Leben ein Ende setzen? Sie war eine Drachenelfe, aber seit so vielen Monden hatte sie nichts mehr von dem Drachen gehört, dem sie sich verschrieben hatte. Es gab Gerüchte über einen Krieg. Überall wurden Albenkinder eingezogen, um auf Nangog zu kämpfen, so hieß es. Doch hier in Uttika waren noch keine Werber gewesen.
Sollte es stimmen, dass auf der Verbotenen Welt gekämpft wurde? Warum schickte der Goldene dann nicht nach ihr? Voller Abscheu sah sie auf ihre Hände. Selbst im Licht des Mondes vermochte sie das Netz der feinen Falten zu erkennen. War dies der Grund? Empfand auch er Abscheu vor ihr?
Manchmal glaubte Bidayn, den Geruch des Grabes an sich wahrzunehmen. Zweimal täglich wusch sie sich. Sie benutzte eine teure Seife, die nach Rosenöl duftete, doch der Geruch kehrte immer wieder. Verwesungsgestank … Gab es ihn nur in ihrer überspannten Vorstellung? War es ihr Ekel vor sich selbst, der ihr den Gestank vorgaukelte, oder rochen die anderen es auch?
Bidayn wusste, dass über sie getratscht wurde. Über die seltsame alte Jungfer, die Shanadeen sich ins Haus geholt hatte. Wieder blickte die Elfe in die schäumende Gischt hinab. Die Tiefe lockte sie. Zwei Schritt und alle Zweifel und aller Ekel hätten ein Ende. Sie würde ihrer Seele Freiheit schenken und in einen neuen, einen makellosen Körper wiedergeboren werden. Bidayn machte einen Schritt auf den Abgrund zu. Hinter ihr auf der Wiese am Hang verstummte das Zirpen der Grillen. Kein Windhauch regte sich jetzt. Selbst das Geräusch der Brandung war leiser geworden, als hielte die Natur den Atem an. Und dann hörte sie Stimmen und ein grobschlächtiges, tiefes Gelächter.
Bidayn wandte sich vom Abgrund ab. Drei Faune kamen den schmalen Trampelpfad hinauf. Das Mondlicht schimmerte auf dem öligen Fell ihrer Ziegenbeine. Sie trugen fleckige Lendenschurze, ihre behaarten Oberkörper waren nackt. Kleine, nach hinten gebogene Hörner wuchsen ihnen aus der Stirn. Der Mittlere von ihnen stützte sich beim Gehen auf einen Speer. Bidayn musterte sie voller Missfallen. Die Zwitterwesen, ersonnen vom kranken Verstand des Fleischschmieds, hatte sie immer schon abstoßend gefunden.
»Du stehst zu dicht an der Klippe, meine Schöne!«, rief ihr der Speerträger zu. »Komm uns doch ein wenig entgegen …«
Seine beiden Gefährten verfielen in meckerndes Gelächter, als wäre ihrem Freund gerade der beste Scherz des Abends gelungen.
»Ich möchte allein sein«, sagte sie in dem unterwürfigen Ton, den sie sich als Kindermädchen angewöhnt hatte. Sie senkte den Blick. »Und ich möchte euch höflich bitten, meinen Wunsch zu respektieren und nun wieder zu gehen.«
»Du brauchst keine Angst vor uns zu haben«, erklärte der Faun links neben dem Speerträger, hob einen Weinschlauch und schüttelte ihn. »Wir sind hier, um Spaß zu haben. Und den wirst du auch haben, das verspreche ich dir. Aber zunächst sollst du wissen, wer gekommen ist.«
Wieder erklang das meckernde Gelächter, als wäre ein weiterer Witz auf ihre Kosten geglückt.
»Nonnos ist der Dichter unter uns«, erklärte der Speerträger, prustend um Atem ringend. »Ich bin Dion, und der große Schweiger zu meiner Rechten ist Krotos.« Mit diesen Worten stieß er Krotos mit dem Ellenbogen in den Rippen, was sein Kamerad mit einem Grinsen quittierte.