Barnaba spürte, wie der Wolkensammler sank. Bald schon glitten sie durch die wenigen Wolken. Die Eiswüste lag vielleicht noch zweitausend Schritt unter ihnen. Schnell breitete die Nacht ihre weiten Flügel über den Horizont. Im westlichen Abendrot erkannte der Priester zwei Ankertürme. Das war wenig, auch für eine kleine Stadt.
Träge glitten die Nebelschwaden über den Kuñi Unu. Barnaba konnte darunter kaum das dunkle Wasser erkennen. Dafür entdeckte er eine feine, schlammfarbene Linie, die sich in weitem Bogen von den Ankertürmen hin zum Fluss schwang und an seinem jenseitigen Ufer weiter nach Osten führte. »Eine Straße?«, sagte er halblaut.
»Sie führt zu einem Weltentor«, antwortete Nabor knapp.
»Ich dachte, alle Wege führen durch das Tor in der Goldenen Stadt«, mischte sich Kolja ein, der immer noch den schweren Schild hochhielt.
»Fast alle.« Nabor wollte erneut nach seiner Schulter greifen, doch diesmal wurde er sich bewusst, was er tat, und zupfte verlegen mit Daumen und Zeigefinger an seiner Nasenspitze, als wäre dies das Ziel seiner unruhigen Hand gewesen. »Einige wenige Orte liegen zu weit abseits der Karawanenrouten, schiffbarer Seewege oder der weiten Himmelsstraßen der Wolkensammler. Zu ihnen haben die Götter Tore geöffnet. Wanu ist so ein Ort. Normalerweise kommen Wolkensammler nicht hierher, deshalb gibt es nur zwei Ankertürme. Und doch ist die Stadt von größter Bedeutung für die Zapote. Alle Bergstämme müssen Arbeiter stellen, die hierhergebracht werden, um das Weiße Gold zu ernten.«
»Weißes Gold?« Kolja wirkte plötzlich überaus interessiert.
»Ich glaube nicht, dass du dir daran die Hände schmutzig machen würdest«, entgegnete der Lotse hintersinnig lächelnd und hüllte sich wieder in Schweigen.
Ihr Flug dauerte noch mehr als eine Stunde, und die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden, als sie schließlich am südlichen der beiden Ankertürme anlegten. Der dunkle Ruf von Muschelhörnern hieß sie willkommen. Dutzende Fackeln waren auf den Querstreben des Turms entfacht worden, und ein grauhaariger Krieger in einem leuchtend roten Federmantel hieß sie auf dem obersten Absatz der Treppe willkommen, die sich in weiten Spiralen entlang der Außenmauer des Ankerturms hinabwand.
Als Barnaba als Erster über eine breite Laufplanke das Schiff verließ, bemerkte er, in welch schlechtem Zustand die Fangarme des Wolkensammlers waren. Deutlich waren Frostbeulen zu erkennen. Die Tentakel schlangen sich nur langsam um die dicken Querbalken, die aus den Seiten des Gemäuers strebten. Ganz offensichtlich litt Wind vor regenschwerem Horizont Schmerzen.
»Es ist selten, hier im Norden Besuch zu bekommen«, begrüßte ihn der Rotmantel in überraschend gutem Luwisch. Mit einer Geste forderte er Barnaba und seine Mannschaft auf, die Treppen hinabzusteigen.
»Du weißt, wer wir sind?« Misstrauisch folgte Barnaba ihm. Erwarteten ihn auch hier schon die Schergen der Unsterblichen? Konnte es sein, dass die Nachrichten über ihn schon bis zu diesem entlegenen Außenposten gelangt waren?
Der Zapote grinste ihn an. »Eure Bärte. So sehen nur Luwier oder Männer aus Aram aus.«
Barnaba strich sich über den eisverkrusteten Vollbart und nickte. »Wohl wahr.«
»Bringt ihr Decken?«
»Nein.«
Der Zapote hielt einen Moment inne. »Ihr seid nicht zum Handeln gekommen? Wir hätten Robbenfleisch und Felle. Den Tran brauchen wir selbst.«
Barnaba blieb stehen und hob entschuldigend die Hände. »Wir sind keine Händler.«
»Weitergehen«, zischte der Zapote. »Ihr habt eine ungünstige Zeit gewählt. Wir müssen schnell den Turm hinab. Hinter feste Wände.« Besorgt blickte er zu den Fackeln zurück, die sich im sanften Abendwind neigten.
»Wird ein Sturm aufziehen?«
Der Rotmantel winkte ab. »Kein Sturm. Sie kommen. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang bläst in dieser Jahreszeit der Nordwind. Und sie reiten auf ihm – die Geister des Nordens. Man sollte nicht draußen sein, wenn sie kommen. Ihre Berührung bringt den Tod. Weder warme Mäntel noch Rüstungen schützen vor ihnen.«
Nabor hatte also keinen Unsinn zusammengesponnen! Jetzt erst fiel Barnaba auf, wie angespannt alle wirkten. Die Fackelträger, Wachen und Lastenträger, die auf den Querbalken des Turms standen und ihrer Befehle harrten. Sie alle blickten immer wieder nach Norden. Manche machten verstohlen das Zeichen des schützenden Horns.
»Man kann sie nicht aufhalten?«
»Sie mögen Feuer nicht. Leider ist Holz hier ziemlich knapp, und so zwingen sie uns dazu, wie Ratten zu leben.« Der Zapote zog die Nase hoch und spuckte an der Außentreppe vorbei in die Finsternis. »Als wäre es hier in Wanu nicht schon schlimm genug.«
Barnaba verstand nicht, was der verbitterte alte Krieger meinte, aber er fragte auch nicht nach. Schweigend und schnellen Schrittes eilten sie die Stufen hinab. Sie erreichten einen weiten Platz, bedeckt mit zertrampeltem, eisüberkrustetem Schnee, der jeden Schritt mit einem mürrischen Knirschen begleitete. Die flachen Häuser am Platz wirkten verlassen. In keinem Fenster brannte ein Licht. Aufgegebene Zelte waren unter der Last des Schnees auf ihren Planen zusammengestürzt.
Der Zapote führte sie zu einem Haus, das vielleicht einmal ein Palast gewesen war. Bärte aus mannslangen Eiszapfen hingen von den vorkragenden Dächern. Das weite Eingangsportal war halb hinter einer Schneewehe verschwunden. Sie umrundeten die mächtigen Mauern und erreichten einen Abstieg zum Keller. Ein Hügel aus aufgeworfenem Schnee schützte den Eingang vor dem Wind. Sand war auf die breiten Stufen gestreut. Rauch zog zu ihnen hinauf und brannte Barnaba in den Augen. Als sie das Ende der Treppe erreichten, blickten sie auf ein loderndes Feuer. Der alte Zapote ging unbeirrt darauf zu und setzte mit einem Sprung über die Flammen hinweg. Dann drehte er sich um. »Kommt! Das ist der einzige Wall, der uns vor den Schrecken der Nacht schützen kann. Nur hier seid ihr in Sicherheit.«
Zögerlich näherte sich Barnaba dem Feuer. Jenseits der Flammen entdeckte er einen halbnackten Mann mit grässlich tätowiertem Gesicht, der sich eine Knochennadel durch die Nase gestoßen hatte. Er tunkte ein Bündel aus langen Schwungfedern in ein Fass und schwenkte es über die Flammen, die zischend Kapriolen schlugen. Dabei rief er laut in seiner Muttersprache irgendwelche Beschwörungen.
Hinter Barnaba drängten sich etliche Männer auf der Treppe zum Keller. Unerfreutes Murren und leise gemurmelte Flüche ließen ihn schließlich durch die Flammen springen. Kurz tastete ihr heißer Atem nach seinem Gesicht, dann landete er sicher neben dem Tätowierten.
Sein Führer im roten Federmantel bedeutete ihm, ein paar Schritte nach vorn zu machen, damit die anderen folgen konnten. »Hier kannst du mit deiner Mannschaft die Nacht verbringen, Himmelsreisender. Die Götter müssen euch lieben! Anders ist nicht zu erklären, dass ihr es bis hierher geschafft habt.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, führte ihn der alte Krieger tiefer in den Gewölbekeller hinein, der offensichtlich früher einmal als Lagerraum genutzt worden war. Ein seltsamer Geruch hatte sich in den unregelmäßigen, weißen Wänden festgesetzt. Die Gewölbe schienen direkt aus dem Gestein geschlagen zu sein.
Schließlich erreichten sie eine geräumige Nische, in der eine Öllampe brannte, über deren kleiner Flamme ein schmieriger, schwarzer Rauchfaden aufstieg. Bunte Decken lagen dort, und eine Schale mit salzüberkrustetem Fisch stellte wohl ihr Abendmahl dar.
Der Zapote bedeutete ihm, sich niederzulassen. Barnaba setzte sich und sah zu, wie auch seine Männer in den Wandnischen des weiten Kellers Platz nahmen. Die Zapote, die in dem Keller Zuflucht gesucht hatten, beachteten sie kaum. In bunte Decken gehüllt, kauerten sie entlang der Wände, starrten vor sich hin oder schliefen. Kaum einer sah zu ihnen auf. Es waren weit über hundert Männer.
Kolja ließ sich unaufgefordert neben Barnaba nieder und griff nach der Schale mit dem Fisch. Ihr Gastgeber bedachte ihn mit einem finsteren Blick und wollte gerade etwas sagen, als Barnaba die Hand hob. »Bitte sei nachsichtig mit ihm. Er ist Drusnier.«