Ormu wunderte sich, wie offen die beiden in seiner Gegenwart über den Herrscher sprachen. Zum Glück! Eine Begegnung zwischen Aaron und Kirum musste er um jeden Preis verhindern. »Die Trösterin ist zusammengebrochen. Sie wird eine Nacht schlafen müssen.«
Ashot wirkte misstrauisch. Mataan hingegen nickte verständnisvoll. »Aaron ist es nicht besser ergangen. Ich werde nicht gestatten, dass irgendjemand seine Gemächer betritt, bevor der Unsterbliche sich nicht aus eigener Kraft von seinem Lager erheben kann.«
»Auch er darf nicht schwer essen«, platzte es aus Ormu heraus. »Er …«
Mataan hob beschwichtigend eine Hand. »Er hat gar nichts zu sich genommen. Er ist auf seine Bettstatt gesunken und sofort eingeschlafen.« Der Hofmeister wandte sich an Ashot. »Wie regeln wir das hier? Ich bin geneigt, Ormu und dieser Trösterin zu glauben.«
Ashot lächelte kalt. »Ich erledige das. Sie mögen mich ohnehin nicht. Eine Schüssel dünne Suppe, einen halben Brotfladen und als Getränk nur noch Quellwasser … Das ist es, was diese Trösterin will?«
»Ja!«, bestätigte Ormu.
»Dann lasse ich das Fleisch jetzt fortschaffen. Aber du, mein Freund, du bleibst hier. Du sollst mit ansehen, was geschehen wird. Und du wirst ihnen allen die Geschichte von der Trösterin erzählen, wenn sie anfangen zu rebellieren und den Unsterblichen zu verfluchen.«
Ormu sah zu den erschöpften Gestalten. »Die haben kaum noch die Kraft, eine Suppe zu schlürfen. Die werden nicht rebellieren. Wir müssen auch darauf achten, dass sie sich nicht woanders Essen besorgen.«
Ashot schnitt eine Grimasse. »Du willst mich zur Amme von zweihundert übellaunigen, verlausten Kriegern machen. Was habe ich dir nur getan?« Er deutete zu einem der freien Plätze an der Stirnwand des Hofs. »Setz dich und schlürf deine Suppe. Und bete zu den Göttern, dass die Trösterin recht hat und man sich nicht morgen überall in der Stadt das Maul darüber zerreißen wird, dass der Unsterbliche Aaron seine Helden zu einem Festmahl aus trockenem Brot geladen hat.«
Yazde half Ormu zu einem Platz an der Wand und sank dann selbst erschöpft nieder. »Er ist kein freundlicher Mann, der Feldherr des Unsterblichen«, bemerkte er ärgerlich.
Der Hauptmann musste lächeln. »Ich glaube, das ist auch besser so. Entweder ist man ein guter Feldherr oder ein freundlicher Mann. Dass beides zusammenfallen kann, glaube ich nicht.«
Sie mussten nicht lange warten, und Dienerinnen brachten ihnen Schalen mit dünner Suppe. Ringsherum begann das Maulen. Als dann statt Fleisch nur trockenes Brot gebracht wurde, empörten sich noch mehr.
So wie Ashot es angekündigt hatte, ließ er Ormu holen, damit er von der Warnung der Trösterin sprach. Einige Männer ließ das verstummen, andere wurden nur umso lauter. Als sie versuchten, den Hof zu verlassen, um anderswo ein Festmahl zu halten, fanden sie alle Wege, die vom Hof in den Palast führten, mit Kriegern besetzt.
Jetzt begann lautstarker Streit. Doch er währte nicht lange, denn selbst die Kräftigsten unter den Heimkehrern vermochten nicht mehr, als ein wenig zu maulen und drohend die Fäuste zu heben. Langsam senkte sich eine mürrische Stille über den Hof. Die Tänzerinnen waren längst gegangen. Es spielte keine Musik mehr, und die Kochfeuer waren gelöscht worden. Schließlich dösten die meisten Männer ein. Es war eine angenehme, laue Nacht. Hier musste niemand befürchten, in einen Schlaf zu sinken, aus dem es kein Erwachen geben würde.
Ormu erwachte, als Ashot ihn im ersten Morgenlicht sanft am Arm rüttelte. »Du hattest recht. Gerade eben ist ein Bote aus dem Palast des Unsterblichen Labarna eingetroffen. Dort gab es ein großes Festmahl … Im Laufe der Nacht sind mehr als vierzig Männer gestorben. Sie dachten erst, jemand habe Gift ins Essen gerührt, aber das war es nicht.« Er senkte den Kopf, und ein seltsam bitterer Ton, den Ormu nicht recht zu deuten verstand, lag nun in der Stimme des Feldherrn. »Der Unsterbliche schuldet ihr großen Dank.«
Ormu nickte müde. Dann stand er schwerfällig auf. Alle Glieder schmerzten, als wäre er schon ein alter Mann. Yazde schlief tief und fest. Diesmal würde er ihn nicht bemühen.
»Brauchst du Hilfe?« Ashot bot ihm den Arm an.
»Das letzte Stück schaffe ich schon.« Er wollte allein in seine Gemächer. Niemand sollte sehen, wer in seinem Bett lag.
Den Hof schaffte er noch ganz gut, aber als er den langen Flur erreichte, an dem seine Kammer lag, musste er sich mit einer Hand an der Wand abstützen. Mit schlurfendem Schritt machte er seinen Weg.
Als er in seine Kammer trat, war sein Bett leer. Das hatte sie nicht verdient! Tränen traten ihm in die Augen. Sie war eine starke Frau gewesen. Eine Frau, wie ihm noch keine begegnet war. Aber hatte sie sich aus eigener Kraft erheben können, um zu fliehen? Oder war sie geholt worden, weil Ashot oder Mataan ihn durchschaut und gewusst hatten, wo die geheimnisvolle Trösterin zu finden gewesen war.
Egal, aus welchem Grund Kirum verschwunden war. Ormu wusste, dass es sinnlos war, nach ihr zu suchen. Selbst wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. War es ihre Entscheidung gewesen, dann wäre sie längst in der Stadt untergetaucht. Hatten aber Ashot oder Mataan sie holen lassen, dann wäre es noch aussichtsloser, nach ihr zu suchen. Kirum durfte nie wieder unter Aarons Augen treten.
Kraftlos ließ sich der Hauptmann auf sein Lager sinken. Warum war die Welt so, dass es für die Gerechten keine Gerechtigkeit geben konnte?
Donnerbalkenpolitik
Die Alben liebten ihn, dachte Hornbori, als er ein wenig angetrunken aus der Festhalle trat, um sich zu erleichtern. Eben noch hatte er mit dem Elfenschmied Gobhayn über Mängel bei den Schlitten gesprochen. Man würde die Zugtiere schützen müssen, und ein Dach gegen Pfeile, die von oben kamen, brauchten ihre Tanks auch. Gobhayn war das alles zu kompliziert. Aber er wollte weiter über Lösungen nachdenken.
Das Beste von allem war jedoch, dass er in die Ehernen Hallen zurückkehren würde. Zumindest für einen kurzen Besuch. Solaiyn, ihr stets leicht verwirrt wirkender Feldherr, hatte ihm verraten, dass er die Goldenen Schwingen verliehen bekäme. Hornbori grinste breit. Sicher hatte der Rat der Stadt sich damit gegen Eikin durchgesetzt. Wenn es nach dem Alten in der Tiefe ginge, würde er gewiss nie mehr zurückkehren. Und wenn er schon einmal da war, würde er Amalaswintha wiedertreffen. Er seufzte. Was würde er für eine Liebesnacht mit ihr geben! Vielleicht, wenn sie es wollte … Frauen begeisterten sich an Helden, und sie war klug. Nun da sie beide gewarnt waren, würde Amalaswintha gewiss einen Weg finden, wie sie beieinander sein konnten, ohne dass Eikin davon erfuhr.
Hornbori ging an der Rückseite der Festhalle entlang. Ob die Elfen es als Beleidigung auffassen würden, wenn er dagegenpisste? Bei den Langohren konnte man nie wissen. Manchmal waren sie geradezu absurd empfindlich. Er schnupperte. Der Gestank war unverkennbar. Nicht weit von hier, am Rand eines Fichtenhains, gab es einen Donnerbalken. Er würde einfach in die Grube pinkeln.
Zwei blassgelbe Laternen markierten den Ort, an dem hintereinander sieben tiefe Gruben ausgehoben worden waren. Über jeder der Gruben lag ein massiver Balken, auf dem man sich niederlassen konnte, um seine Notdurft zu verrichten. Es herrschte ein so übler Gestank, dass jeder, der seine Sinne beisammenhatte, lieber in die Wälder auf den Bergflanken ging.
Hornbori stieß gegen einen Eimer, in dem stinkende Schwämme lagen. Er fragte sich, wer es wohl über sich brachte, sie zu benutzen, um sich den Arsch abzuwischen. Angewidert trat er einen Schritt zurück und öffnete seinen Hosenlatz. Er würde ganz sicher nicht an den Rand der Grube treten.
»Schön dich wiederzusehen, Schisser!«
Erschrocken fuhr der Zwerg herum. Galar trat ins Licht der Laternen.
»Wie ich höre, sind alle deine Männer verreckt, Schisser. Da verstehe ich nicht, wie man dich als Helden feiern kann.«
Hornbori versuchte, ein Stück zur Seite auszuweichen, um mehr Abstand zur Grube zu gewinnen, doch Galar verstellte ihm den Weg. »Du bist genau an dem Platz, an den du hingehörst, Schisser.«