Es war ein Augenblick des inneren Triumphs. Oft hatte sie ihn in den letzten Wochen ausgekostet, in denen sie sich auf diese Nacht vorbereitet hatte.
Dann zog sie das Messer aus ihrem Gürtel. Keine Waffe, die von Drachen geschmiedet war, doch eine exzellente Klinge aus Silberstahl. Sie legte sie neben den Sack, in dem ihr Opfer immer noch vergeblich strampelnd gegen das starke Tuch ankämpfte.
»Nach all den Jahren habe ich endlich begriffen, dass ich es war, die sich in deine Hand begeben hat. Ich hatte mich ganz und gar dem Glauben unterworfen, dass du mir etwas geben kannst, was ich unbedingt brauche. Nun endlich habe ich meine Freiheit gefunden.« Die Elfe ließ sich neben dem Feuer nieder und warf noch ein paar weitere dünne Äste in die Flammen. Ruhig betrachtete sie den Holunderbusch, der alle vier Jahreszeiten in sich vereinte. Frisches Grün, weiße Blüten und schwere rote Beeren sowie einige kahle Äste.
Ich fürchte, ich verstehe nicht, was du meinst.
»Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn du die Zunge der Göttin, Iyali, die Hohepriesterin der Devanthar Anatu, für mich zum Sprechen bringen könntest. Sehr gerne würde ich die Geschichte hören, die sie über den Tod des Purpurnen zu erzählen hat.«
Und du glaubst, meine Haarwurzeln zu versengen ist der richtige Weg, mich dir gewogen zu machen?
»Würdest du sagen, das Gefühl für Ethik und Moral seien die Haarwurzeln, die den Charakter eines Elfen ausmachen.«
Ich würde sagen, das ist ein schrecklich schiefes Bild, entgegnete Matha Naht spöttisch.
»Ja, mein poetisches Talent ist nicht sonderlich geschliffen. Dennoch glaube ich, dass du verstehst, was ich meine. Geradeheraus gesagt: Mein ethisches Empfinden hat im Umgang mit dir gelitten. Und das war von dir vollkommen beabsichtigt.«
Eine Unterstellung.
»Das wäre tragisch, denn es würde dich zu einem unschuldigen Opfer machen.« Sie betrachtete die kleinen Tierknochen nah am Stamm des Holunders. »Ich glaube aber, Unschuld ist in deinem Falle nahezu auszuschließen. Ich würde sie für mich auch nicht proklamieren. Du hast aus mir eine Mutter werden lassen, die aus einem verfehlten Streben nach Vollkommenheit ihre Kinder tötete. Und dann bin ich losgezogen, ein Kind nur für dich zu holen. Sein Blut soll dich stärken. Glaubst du, dass alles in dieser Welt in Balance miteinander existiert? Das Leid der Mutter, die nach ihrem Mann auch ihr Kind verliert … Und das Leiden des Kindes. Wird dies durch deinen Machtgewinn ausgeglichen?«
Was ist los mit dir? Was ist in Tanthalia geschehen?
Lyvianne betrachtete den Sack. Die Kleine lag jetzt still. »Es ist schwer in Worte zu fassen, was sich ereignet hat. Vielleicht könnte man noch am ehesten sagen, ich bin aus mir herausgetreten und mir begegnet.«
Du redest wirres Zeug!
»Vielleicht.« Die Elfe griff nach der schweren Schere und stand auf. »Glaubst du, das sei eine Nebenwirkung, wenn einem die Haarwurzeln abhandenkommen?« Sie beugte sich vor, griff nach einem der kahlen Winteräste und schnitt ihn aus dem Holunderbusch.
Sie spürte den Schmerz, den sie Matha Naht zugefügt hatte.
Damit erreichst du nichts!
Lyvianne trat ans Feuer und legte den Ast in die Flammen. »Das wäre tragisch für dich, denn dann wirst du aufhören zu existieren. Ich werde Nachtatems Werk vollenden.«
Und was gewinnst du? Ich bin die Einzige, die vielleicht Iyalis Geist herbeirufen kann. Wenn ich vergehe, wirst du ihr Geheimnis niemals lüften.
Lyvianne ging erneut zum Holunder. Diesmal schnitt sie einen Ast in voller Blüte ab. »Was das angeht, habe ich mich verändert, Meisterin.« Sie legte den Ast auf das Feuer, und bald stieg dichter, grauer Rauch von ihm auf. »Ich habe mich endlich von meinen Ketten befreit. Von der irrigen Vorstellung, dass es nur einen einzigen Weg für mich gibt. Wenn ich das Geheimnis Iyalis nicht ergründe, dann werde ich beim Goldenen in Ungnade fallen. Er wird mich nicht mehr auf Missionen schicken. Ich gestehe, ich bin ehrgeizig. Ich würde gerne weiter auf diesem Weg gehen. Aber als ich auf Tanthalia vor dem Mädchen stand, das ich dir zum Opfer auserwählt habe, da ist mir aufgegangen, wie leer mein Leben eigentlich ist. Ich sollte noch einmal versuchen, ein Kind zu haben. Und ich sollte über jeden vermeintlichen Makel, den es trägt, hinwegsehen. Das Vollkommene kann sich nicht mehr weiterentwickeln. Es hat das Ende des Weges erreicht. Vielleicht würde ein vollkommenes Kind gar nicht mehr geboren werden, sondern direkt ins Mondlicht gehen?«
Was ist das für eine verquere Spinnerei? Mach dir nichts vor! Du bist keine Bäume liebende Gutelfe.
Lyvianne schnitt noch einen weiteren Ast ab. »Was die Bäume liebende Gutelfe angeht, hast du sicherlich recht.«
Du weißt, dass manche Pfade der Magie nur über den Weg des Blutes zu erreichen sind. Dunkle Pforten werden durch dunkle Taten aufgestoßen.
»Ich bin mir sicher, du trägst genügend Dunkelheit in dir, um überallhin zu gehen.«
Du weißt, wovon ich rede! Du bist selbst auf diesem Weg geschritten.
Lyvianne drehte den abgetrennten Ast zwischen den Fingern. Sie dachte an all das, was sie in der Vergangenheit getan hatte. Daran, wie sie die Dunkelheit in ihre Seele gelassen hatte. »Ich weiß, dass es eines Opfers bedarf, weil wir selbst den Preis nicht zahlen wollen. Diesmal wird es nicht so sein.«
So sind die Regeln nicht.
Die Elfe schnitt noch einen Ast ab. »Heute haben sich die Regeln geändert. Wie lange wird es dauern, bis du vier neue, kräftige Äste ausgetrieben hast? Ein Jahr? Zwei? Ist ein karger Boden hier, nicht wahr?«
Also gut. Hol das Mädchen. Wir beginnen.
Der schwarze Spiegel
Lyvianne ließ die Schere fallen und steckte den Ring auf einen der Aststümpfe. Dann ging sie zum Sack und öffnete die Schnur, mit der er verschlossen war. Heraus kam eine schneeweiße, verängstigte Ziege, deren Maul mit einem Seidenband zugebunden war.
Was soll das?
»Ich töte keine Kinder mehr.«
Dann kannst du die Beschwörung gleich vergessen. Ziegenblut ersetzt nicht das Blut eines unschuldigen Elfenmädchens.
»Dann werden wir etwas von uns geben. Ich weiß, dass ein Preis zu zahlen ist. Ich bin bereit.«
Du hast mir Iyalis Geschichte erzählt. Sie hat einen besonders schrecklichen Tod auf sich genommen, damit es unmöglich ist, sie noch einmal zurückzuholen. Sie hat die Tore hinter sich besonders fest verschlossen. Und du brauchst mir nicht noch einmal zu drohen. Ich habe verstanden, wie entschlossen du bist. Ich sage dir nur, dass du besser keine Wunder erwarten solltest.
»Fang an!«
Du weißt, was zu tun ist.
Lyvianne packte die Ziege mit der Linken bei den Hörnern. Mit der Rechten hob sie den Opferdolch auf. Sie zog das sich windende Tier zum Holunderbusch. Die Ziege spürte die düstere Aura Matha Nahts. Sie spürte, dass sie bei dem Busch ein Unheil erwartete. Verzweifelt stemmte sie sich mit ihren kleinen Hufen gegen den Boden. Doch gegen die Elfe vermochte sie wenig auszurichten.
Dicht vor dem Holunderstamm zog Lyvianne das Messer über die Ziegenkehle und drückte ihr dabei den Kopf weit in den Nacken. In pulsierenden Stößen spritzte das Blut über Äste und Blätter.
Etwas veränderte sich. Die Dunkelheit schien dichter zu werden, so als wollte sie zu kaltem Onyx gerinnen, einem Stein, schwärzer als die Nacht.
Die Ziege sackte leblos in sich zusammen. Lyviannes weißes Kleid, auf dem sonst kein Stäubchen und kein Schlammspritzer zu haften vermochte, war mit Blut besudelt. Das, was Matha Naht heraufbeschwor, verzerrte jeden anderen Zauber, und es trank gierig aus den Kraftlinien der Welt.
Raum und Zeit gerieten aus den Fugen. Die Blätter des Holunders raschelten, obwohl es windstill war. Die zu Stein geronnene Finsternis wuchs unmittelbar vor Lyvianne an, bis sie wie ein schwarzer Spiegel vor ihr aufragte.