Ich habe mein Opfer gebracht, nun ist es an dir.
Lyvianne bückte sich, ohne die spiegelnde Fläche aus den Augen zu lassen. Etwas bewegte sich darin, kräuselte die Oberfläche und verschwand. Die tastenden Finger der Elfe fanden die schwere Schere. Es fehlte der Schlüssel, um das Portal zum Seelenhort zu öffnen. Dies war keine Totenbeschwörung, wie Lyvianne sie je zuvor erlebt hatte. Die meisten Seelen warteten. Sie erhofften, noch einmal einen Augenblick in die Welt aus Fleisch zurückzukehren. Wurde für sie die Grenze geöffnet, dann fluteten sie herbei, ohne dass ein Zwang notwendig war. Doch dieser Zauber war anders. Er fraß sich tief in die Finsternis hinter dem spiegelnden Schwarz und störte auf, was für immer verborgen sein wollte.
Raureif kroch rings um Lyvianne über den Boden. Das Metall der Schere fühlte sich klebrig an, so kalt war es geworden. Die Scherenschneiden berührten den kleinen Finger ihrer linken Hand, dort, wo er aus der Handfläche wuchs.
Die Elfe drückte die Griffe zusammen. Sie hatte die Schere erst am Morgen geschliffen. Es wurde ein glatter Schnitt. Ihr kleiner Finger fiel zu Boden. Sie ließ auch die Schere fallen. Dann hob sie den Finger auf, schleuderte ihn der spiegelnden Fläche entgegen und sagte feierlich: »Ich rufe dich, Iyali, Zunge der Göttin, Hohepriesterin der Anatu!«
Der Finger verschwand im Schwarz, wie ein Stein in einem spiegelnden, nächtlichen See verschwindet.
Warmes Blut troff von Lyviannes Hand und gefror auf dem eisigen Boden. Ein langes, schmales Gesicht drückte sich aus dem Spiegel. Schimmernd schwarz, war es keine Handbreit vom Antlitz der Elfe entfernt.
»Wer bist du?« So nah das Gesicht Lyvianne auch war, die Stimme klang, als erhöbe sie sich vom Grund einer tiefen Grube.
»Mein Name ist Lyvianne. Dein Volk nennt mich eine Daimonin. In meiner Welt jedoch bin ich respektiert wie eine Fürstin. Ich bin eine Drachenelfe. Eine Elfe, die sich ganz und gar dem Dienst an einer Himmelsschlange verschrieben hat. Mein Gebieter ist der Goldene, Herr des Lichtes, Verkünder der Wahrheit.«
»Du bist also eine Priesterin?«
»Ja«, stimmte Lyvianne zu, auch wenn sie sich selbst nie so genannt hätte.
»Was willst du?«
»Ich spüre gemeinsam mit dem Ebermann einem alten Unrecht nach. Nur du kannst uns helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.«
»Der Eberhäuptige?« Die Stimme klang plötzlich aufgewühlt. »Ich wusste, dass er Anatu niemals vergessen würde. Wo ist er?«
»Er kann nicht hier sein. Er wartet im Palast aus Mondenlicht auf mich. Von deiner Welt aus ist der Weg zu dir für immer verschlossen, Iyali. Meine Welt aber ist zu gefährlich für den Ebermann, denn es herrscht Krieg zwischen den Devanthar und den Himmelsschlangen. Ich muss wissen, was geschehen ist, als deine Herrin Anatu und der Purpurne einander zum ersten Mal begegneten.«
Ein tiefer Seufzer drang durch den schwarzen Spiegel. »Der purpurne Herr des Himmels begegnete Anatu zum ersten Mal im Netz der goldenen Wege, meine Herrin aber traf ihn zum ersten Mal in ihrem Palast aus Mondenlicht.«
Lyvianne verstand diese Worte nicht, mochte das der Priesterin aber nicht eingestehen. Auch wollte sie Iyali nicht unterbrechen.
»Der Purpurne kam in Freundschaft in meinen Tempel, meine Herrin aber empfing ihn mit Misstrauen und in Waffen. Er war besonders … Ich durfte einigen ihrer Gespräche beiwohnen. Seine Offenherzigkeit war entwaffnend. Sie waren so verliebt, so leichtfertig … Noch zwei weitere Male haben sie sich ungestört getroffen, denn sie folgten demselben Traum. Sie wollten Frieden zwischen unseren Welten stiften.«
Die tödliche Kälte, die Raureif auf den Boden gezaubert hatte, begann nach Lyvianne zu greifen. Sie würde Iyali nicht mehr lange lauschen können, ohne Schaden zu nehmen. Und sie war sich nicht sicher, ob dies eine Nebenwirkung der Geisterbeschwörung oder eine Boshaftigkeit von Matha Naht war.
»Es war bei ihrem dritten Treffen, dass die anderen kamen. Išta führte sie. Langarm und der Gefiederte begleiteten sie. Der Schmied packte Anatu, während die beiden anderen ohne Vorwarnung den Purpurnen angriffen … Es wurde ein langer, schwerer Kampf, der sie weit fort vom Palast aus Mondenlicht führte. Und Langarm folgte ihnen mit der gefangenen Göttin.«
Sie machte eine Pause. Aufgewühlt von der Erinnerung.
Lyvianne spürte, wie ihre Füße schon ganz taub vor Kälte wurden.
»Du weißt, dass ich auf besondere Weise mit meiner Göttin verbunden war. Der Purpurne wurde nach schwerem Kampf besiegt und enthauptet. Es geschah irgendwo in einem fernen Waldland. Und dann trat Išta vor meine Herrin und stach mit ihrem Speer nach ihr. Von da an verwirrt sich alles… Ich weiß nicht, wie Anatu verwundet wurde, aber wenn ihre Gedanken und Erinnerungen wie ein Krug waren, dann schleuderte Išta diesen Krug mutwillig auf einen Steinboden, wo er in tausend Stücke zerbrach. Es ist alles noch da … Aber ich vermag es nicht in die richtige Ordnung zu bringen. Der Gefiederte forderte den Kadaver des Purpurnen, Išta aber wollte den Kopf des Drachen zum Gefängnis für meine Herrin machen. Und Išta wurde zur Göttin Luwiens, das war es, was sie immer gewollt hatte. Ich glaube, die Geflügelte Göttin wusste am Anfang nicht, welche besondere Verbindung es zwischen mir und meiner Herrin Anatu gab. Aber sie fand es heraus, und dann schickte sie die drusnischen Plünderer, die meinen Tempel schändeten. So zu handeln ist Ištas Art. Sie verstrickt andere in ihre Pläne, sodass nie sie allein zur Verantwortung gezogen werden kann …«
Lyvianne spürte, dass die Priesterin wieder in Dunkelheit und Vergessen fliehen wollte, aber ihr war immer noch unklar, wie das alles begonnen hatte. »Du sagtest: Der purpurne Herr des Himmels begegnete Anatu zum ersten Mal im Netz der goldenen Wege, meine Herrin aber traf ihn zum ersten Mal in ihrem Palast aus Mondenlicht. Wie kann das sein?«
»Und ich dachte immer, ihr Daimonen seid Meister der Intrige. Denk darüber nach! Es ist alles gesagt.«
»Und Langarm? Išta gewann das Königreich Luwien, der Gefiederte den Leichnam des Purpurnen. Aber welchen Lohn empfing der Götterschmied? Warum beteiligte er sich an dem Komplott?«
»Das weiß auch ich nicht. In Anatus Erinnerung gibt es wirre Bilder. Er verrichtete eine Arbeit auf dem Kampfplatz. Sie brauchten ihn, weil er Schmied war. Und sie brachten ihm Gold. Sehr viel Gold!« Die Stimme der Hohepriesterin wurde immer leiser, als würde sie in die Tiefe gezogen.
»Was hat er geschmiedet?«
»Ich weiß es n…« Das Gesicht im schwarzen Spiegel verschwand, mit ihr löste sich die dunkle Wand vor Lyvianne auf, und sie sah wieder den Holunder vor sich.
Und? Hast du erfahren, was du wissen wolltest?
Lyviannes Stiefelsohlen waren am Boden festgefroren. Dünne Holunderranken hatten sich um ihre Knöchel geschlungen. Sie riss sich mit einem Ruck los und kauerte sich neben das kleine Feuer. Ihr war so kalt. Sie versuchte, sich auf ein Wort der Macht zu besinnen, das Wärme in ihren Körper zurückbrachte, doch es wollte ihr nicht einfallen.
Sie schnitt Stoffstreifen vom Saum ihres Gewandes und verband ihre verwundete Hand. Die Kälte hatte die Blutung gestillt. Das war das einzig Gute daran. Der Raureif auf dem Boden verschwand langsam. Doch wollte es ihr nicht wieder warm werden. Es war, als hätte sich die Kälte tief in ihren Knochen eingenistet. Schließlich schleppte Lyvianne sich in den nahen Wald, um mehr Reisig zu sammeln. Als sie völlig erschöpft zurückkehrte, warf sie so viel Holz ins Feuer, dass die Flammen hoch aufloderten.
Es hat immer seinen Preis, verbotene Tore zu durchschreiten, spottete Matha Naht, die mit Freude zu beobachten schien, wie sie immer noch fror.
Lyvianne versuchte, die böse Stimme des Holunders zu ignorieren. Sie streckte die Hände dem Feuer entgegen und sann über die rätselhaften Worte Iyalis nach. War sie am Ende genauso verwirrt wie ihre Göttin? Wie hatten der Purpurne und Anatu sich zu unterschiedlichen Zeiten zum ersten Mal begegnen können? Durfte sie das nicht wörtlich nehmen?