Die Flammen sanken in sich zusammen, ohne dass sie der Lösung des Rätsels nähergekommen wäre. Vielleicht müsste sie Iyali noch einmal aus der Dunkelheit zerren. Sie strich über ihre verletzte Hand. Ein dumpf klopfender Schmerz war geblieben. Wie viele Finger müsste sie noch opfern? Sollte sie die Geheimisse der Götter ruhen lassen?
Müde erhob sich Lyvianne und ging zum Holunderbusch, um Iyalis Ring zu holen, doch er war verschwunden.
Sie hat ihn mit sich genommen. Hast du es nicht bemerkt?
»Wie … Warum hat sie das getan?«
Was für eine enttäuschend dumme Frage! Um nie wieder gestört zu werden, natürlich. Nun ist die letzte Pforte geschlossen. Ohne etwas aus ihrem Besitz, etwas, womit sie zu Lebzeiten starke Gefühle verbanden, werde auch ich sie nicht wieder rufen können. Jetzt hat sie endlich ihren Frieden. Und die letzten Geheimnisse ihrer Göttin wird ihr niemand mehr entreißen können. Was für eine hingebungsvolle Dienerin, selbst über den Tod hinaus. Ich wünschte, du wärst so gewesen.
»Vielleicht bekommt jeder die Diener, die er verdient?« Lyvianne wandte sich ab und kniete neben der Feuerstelle nieder, um Erde auf die verlöschende Glut zu werfen. Sie würde gehen und nie mehr wiederkommen, das war das Einzige, was sie im Augenblick ganz sicher wusste.
Vielleicht wäre es klüger, ihre Suche einfach aufzugeben. Der erste Vollmond war bereits verstrichen. Bis zum zweiten Vollmond blieben ihr noch fast zwei Wochen. Sie dachte an die Drohung des Ebermanns. Würde er wirklich nach Albenmark kommen, um sie zu suchen, wenn der zweite Vollmond verstrich und sie nicht zum Palast aus Mondenlicht zurückkehrte? An Orte wie den Jadegarten würde er sich nicht wagen. Sollte sie mit dem Goldenen brechen und so, wie ihr Sohn es getan hatte, sich der Gnade des Dunklen anvertrauen? Der Erstgeschlüpfte würde sie sicherlich aufnehmen. Doch für Gonvalon hatte sein Verrat kein gutes Ende genommen. Es war nicht klug zu versuchen, mehr als einer Himmelsschlange zu dienen.
Die letzten Funken der Glut waren unter dunkler Erde erstickt. Sie erhob sich und ging, ohne noch einmal zum Holunder zurückzublicken.
Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass Iyali dich belogen haben könnte? Es ist töricht zu glauben, dass die Geister, die wir rufen, immer die Wahrheit sagen.
Lyvianne schwieg. Sie war überzeugt, nicht belogen worden zu sein. Das war nicht Iyalis Art. Wenn eine Wahrheit zu heikel war, hatte sie in Rätseln gesprochen. Warum hätte sie auch lügen sollen? Sie war Anatu treu ergeben, und wenn das Unrecht, das ihrer Herrin angetan worden war, aufgedeckt wurde, konnte das doch nur in ihrem Sinne sein.
Glaubst du, du könntest wie Menschenkinder denken? Die Stimme Matha Nahts war nur noch schwach in ihren Gedanken. Dabei hatte sich Lyvianne kaum hundert Schritt entfernt. Sie stieg den Hang hinauf, glücklich, das Tal verlassen zu können. Die Elfe dachte an Langarm. Welche Rolle hatte er in dem Komplott gespielt? War er nur deshalb mitgekommen, um Anatu zu halten, während Išta und der Gefiederte gegen den Purpurnen kämpften? Das war zu einfach! Und was war sein Lohn gewesen?
Lyvianne erinnerte sich an den silbernen Löwen, gegen den Bidayn vor dem Albenstern der Goldenen Stadt gekämpft hatte. Er war ein Geschöpf des Schmieds gewesen. Wie waren Iyalis Worte gewesen? Sie hatten Gold gebracht, nachdem der Purpurne besiegt gewesen war.
»Bei den Alben!«, entfuhr es ihr. Sie wusste, was mit der Himmelsschlange geschehen war. Ja, sie hatte den Purpurnen sogar schon einmal gesehen! Er hatte einen neuen Kopf bekommen! Zumindest dieses Rätsel hatte sie dank der Beschwörung gelöst …
Wenn die Himmelsschlangen erfuhren, was die Devanthar ihrem Nestbruder angetan hatten, dann würden sie nicht ruhen, bevor nicht der Letzte der Menschengötter in seinem Blute vor ihnen lag. Der Purpurne war vielleicht tot, aber die Menschenkinder ließen nicht davon ab, seinen Leichnam zu schänden. So viele Jahrhunderte schon!
Das Geburtshaus
Würde der Dunkle ihn erwarten? Nodon stand vor dem offenen Torbogen aus Licht. Ein Schritt trennte ihn von der Pyramide Nachtatems. Er sah nur altes Mauerwerk und Dunkelheit. Er konnte dort überall sein. War die Zeit der Verbannung vorüber? Der Groll seines Gebieters verraucht? Er hätte warten können, bis der Dunkle ihm Nachricht sandte, dass er zurückkommen solle … Nein! Entschlossen trat Nodon durch den Albenstern ins Innere der Pyramide. Er musste wissen, wie es Nandalee ging und was aus den Kindern geworden war.
Erleichtert und auch ein wenig verwundert stellte er fest, dass ihn niemand erwartete. Nicht einmal eine Gazala als Botin des Dunklen. Zögernd folgte er den gewundenen Gängen, bis ein Stück quadratischer, blauer Himmel am Ende eines Tunnels erschien.
Nodon trat aus dem Mauerwerk in die schwüle Hitze der verborgenen Felsoase. Einen Moment verharrte er auf der Schwelle der Pyramide. Er ließ die Vogelrufe auf sich wirken, beobachtete den torkelnden Flug der Schmetterlinge über dem langen Teich voller Seerosen. So viele Düfte hingen in der Luft. Da waren faulendes Wasser, frisch geschnittenes Grün, der Geruch überreifer Mangos und Rauch.
Rauch?
Er kniff die Augen zusammen. Es war so hell hier, dass er Mühe hatte zu sehen, was sich unter dem dichten Laubdach der Bäume hinter dem Teich verbarg. Einst war das verborgene Tal ein großer Garten gewesen. Fast hundert Koboldfamilien lebten hier. Die kämpften gegen die Natur, versuchten den Garten zu erretten. Doch jedes Mal, wenn Nodon heimkehrte, entdeckte er neue Zeichen der Niederlage. Der Jadegarten verwandelte sich langsam wieder in das, was er einmal gewesen war, bevor ihm Ordnung aufgezwungen worden war. Einen Dschungel.
Doch nun gab es etwas Neues. Nodon entdeckte weißes Mauerwerk im Schatten der Bäume. Ein kleines Haus mit Kuppeldach war errichtet worden, und Rauch stieg aus einer Öffnung in der Kuppel. Er konnte sich nicht erinnern, wann im Jadegarten zum letzten Mal ein neues Bauwerk errichtet worden war. Was war vorgefallen in der Zeit, als er nicht hier gewesen war?
Voller Sorge verließ er die Pyramide, umrundete den Teich und trat unter das dichte Dach der Mangobäume. Faulendes Obst lag auf dem Boden. Fliegen summten in der Luft, aufgeschreckt von seinen Schritten. Sie fraßen vom süßen Fruchtfleisch.
Nodon spürte, dass er beobachtet wurde. Hier und dort brachen Bahnen gleißenden Lichts durch das Blätterdach. Dazwischen herrschte Finsternis. Mehr Dunkelheit, als es hier hätte geben sollen. Er war hier!
Es ist gut, dass Ihr zurückgekehrt seid, mein Schwertmeister, drang die Stimme des Dunklen aus den Schatten. Obwohl sie nur in seinen Gedanken zu hören gewesen war, verstummte augenblicklich jeder Laut ringsherum. Die Vögel schwiegen, selbst die Fliegen summten nicht mehr.
»Es war Euer Wunsch, dass ich gehe, mein Meister, nicht der meine«, entgegnete Nodon voller Bitternis.
Ein Irrtum … Vielleicht …
Nodons Blickt huschte von Schatten zu Schatten, doch er konnte den Erstgeschlüpften nicht entdecken. Dann blieben seine Augen an dem neuen Haus haften, das von der Dunkelheit nicht verschlungen wurde. Seine Wände leuchteten weiß zwischen den schwarzen Stämmen. Nodon trat näher, umrundete es und sah, dass es kein einziges Fenster gab. Die niedrige Tür war aus schwerem, dunklem Holz gezimmert. Auch sie war ohne Fenster. Dafür gab es einen schweren Riegel, der von außen vorgelegt werden konnte. Er stand vor einem Kerker!
Die Dame Nandalee wird nicht gefangen gehalten, kam der Dunkle seiner Frage zuvor. Es ist zu ihrem Schutz. Sie konnte nicht länger bei den anderen Drachenelfen bleiben. Du erinnerst dich an das erste ihrer Kinder, das ich geholt habe!
Wie sollte er das jemals vergessen? Diese Kreatur, die der Dunkle aus Nandalees Bauch gezerrt hatte.