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Nachtatem

Nandalee trat aus dem Geburtshaus in das strahlende Sonnenlicht. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie zum weiten Himmel hinauf und genoss die Wärme des Nachmittags. Der Gedanke an Gonvalons Tod holte sie wieder ein. Ganz würde dieser Schatten niemals weichen. Doch sie wollte aus dem Albtraum, der mit dem Untergang von Selinunt begonnen hatte, endlich erwachen. Sie durfte sich nicht länger in sich zurückziehen und wie ein wildes Tier leben.

»Sollen wir weitergehen?«, fragte Firaz. Die Gazala hielt ihre beiden Kinder auf dem Arm. Die Schlüssel zu einem neuen Leben. Für die beiden würde sie alles tun.

»Geh schon voraus«, entgegnete sie.

Nandalee spürte, dass er ganz nahe war. Ihr Kerkermeister und Gebieter. Sie musste mit ihm sprechen, auch wenn es ihrer Meinung nach nichts zu bereden gab.

»Geh voraus, Firaz, ich hole euch gleich ein«, wiederholte sie ruhig.

Die Gazala nickte. Nandalee war sich sicher, dass auch die blinde Seherin wusste, dass Nachtatem hier irgendwo unter den Bäumen wartete. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und ging mit den Kindern dem Weg jenseits des Teiches entgegen, der sie hinauf zur Veste der Drachenelfen führen würde.

Beim Mangobaum, flüsterte seine Stimme in ihren Gedanken.

Nandalee ging dem schweren Duft der Früchte nach. Dann sah sie ihn. Tief in den Schatten, eine vage Gestalt. Er war als Elf gekommen; doch mochte er auch seine Drachengestalt abgelegt haben, so war ihm die Aura bedrückender Macht erhalten geblieben.

Trotz all ihrer Vorsätze, ihm zu widerstehen, vermochte sich Nandalee der Wirkung seiner Aura nicht zu entziehen. Sie fühlte sich klein und unbedeutend. Seine Gunst würde sie aufblühen lassen, würde ihre geheimsten Sehnsüchte erfüllen.

»Was kann ich für Euch tun, mein Gebieter?«, fragte sie steif.

Das weißt du.

»Ich werde nicht wieder das Schwert für Euch führen. Nie wieder werde ich eine Waffe anrühren.«

Er lächelte spöttisch, sodass sie sich mit ihrem Trotz klein und lächerlich vorkam.

Ihr könnt Euch Eurem Schicksal nicht entziehen, meine Dame. Ihr habt Euch in der Weißen Halle die Klinge Todbringer erwählt. Dies Schwert wurde dazu erschaffen, die Devanthar zu vernichten. Ihr seid sein Werkzeug, solange Ihr lebt, Dame Nandalee. Widersetzt Euch dem nicht. Niemand vermag sein Schicksal zu besiegen.

»Das gilt nur für den, der glaubt, dass sein Schicksal festgeschrieben ist«, widersprach sie voller Leidenschaft. »Ich bin die Baumeisterin meiner Zukunft. Kein Orakel und keine Silberschale nimmt mir dieses Privileg.«

Statt zu antworten, lächelte er nur wissend, distanziert. Doch in seinen Augen las sie seine Sehnsucht. Er begehrte sie. Es ging nicht nur um ihr Schwert. Und sie würde niemals wissen, ob nicht dieses Begehren schuld an Gonvalons Tod war.

Die erste Schlacht um Nangog ist geschlagen. Wir haben einen glanzlosen Sieg errungen und die Devanthar gedemütigt. Von nun an wird es auf allen drei Welten keinen Ort mehr geben, der sicher ist. Sie werden zurückschlagen, und sie werden es dort tun, wo wir am wenigsten damit rechnen. Ich bitte Euch, stellt Euer Glück nicht auf die Probe. Bleibt im Jadegarten, Dame Nandalee. Es geht nun nicht mehr um Euch allein. Eure Entscheidungen bestimmen auch über das Leben Eurer Kinder.

»Wollt Ihr mir drohen?«, entgegnete sie scharf. Sie sah, wie sehr ihre Worte ihn verletzten.

Ihr verkennt die Tatsachen, meine Dame. Ich bin keine Gefahr, ich bin Euer Beschützer. Vielleicht der Einzige, den Ihr noch habt.

»Ich weiß, dass Ihr dies ehrlich meint, und ich werde den Jadegarten nicht verlassen. Doch ich werde nie wieder das Schwert für Euch führen. Findet Euch damit ab.«

Nandalee wandte sich ab und ging so schnell sie es vermochte. Die Strapazen der Schwangerschaft und der Geburt hatten sie ausgezehrt. Und auch Nachtatems Gefühle setzten ihr zu. Sie hatte seinen Schmerz gespürt. Seine Traurigkeit. Dies waren weit wirksamere Waffen, um sie umzustimmen, als irgendwelche Drohungen. Sie war sich nicht sicher, was er in ihr sah und was er wirklich von ihr begehrte. Aber sie wollte es nicht ergründen.

Er war der Mörder Gonvalons! Sie schuldete ihm nichts mehr.

Die Furcht des Schwertmeisters

Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, als sie den Gang entlang auf ihn zukam, aber sie hatte darauf bestanden, alleine zu gehen. Es sah aus, als würde die alte Nandalee langsam wiedergeboren, dachte Nodon. Zwei Wochen waren seit der Geburt vergangen, und sie war immer noch zum Erbarmen dürr, aber in ihren Augen lag ein Glanz, der lange verloren gewesen war, und sie lächelte zaghaft. Fast wie ein junges Mädchen, das sich zum ersten Mal allein mit ihrer großen Liebe trifft.

Hinter ihr ging Firaz. Sie hielt die beiden Kinder auf dem Arm.

»Es ist gut, dass die anderen nicht hier sind«, sagte Nandalee leise. Ihre Stimme war noch schwach, zerbrechlich. Sie ließ ahnen, wie viel es sie kosten musste, sich aus eigenem Willen auf den Beinen zu halten.

»Sie haben verstanden, dass du zunächst allein sein möchtest. Und sie sind froh, dass du gekommen bist. Du bist eine von uns. Du gehörst hierher, in die Veste der Drachenelfen.«

Ein Wangenmuskel Nandalees zuckte. War sie gerührt? Oder verärgert? Sie hatte sich immer schwer damit getan, keine Einzelgängerin zu sein.

Er öffnete die Tür, neben der er gewartet hatte. »Alle haben etwas gegeben, um dieses Gemach wohnlich zu gestalten. Ein Geschenk ist sogar von ziemlich weit her gekommen … Man redet über deine Geburt.«

Ihr war anzusehen, dass ihr dieses Thema unangenehm war. Wie hatte er so dumm und taktlos sein können. Er würde die Geburt nicht mehr ansprechen. Das meiste war ohnehin ein Geheimnis zwischen ihm und Firaz. Er wünschte, er könnte vergessen, was er gesehen hatte.

Nandalee trat neben ihn und blieb in der Tür stehen. Er hörte sie nach Luft schnappen … Hoffentlich war sie nicht schon wieder verletzt. Sie war so dünnhäutig geworden.

»Das …« Sie rang erneut um Atem. »Das ist wunderschön!«

»Wir haben improvisiert.« Nodon war erleichtert. »Alle haben etwas gegeben …«

Nandalee deutete auf den langen, tropfenförmigen Schild an der Wand und die beiden Schwerter, die dahinter hingen. »Ich werde nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen. Meine Zeit als Kriegerin ist vorüber.«

Er nickte und versuchte sich vorzustellen, wie der Dunkle das aufnehmen würde. Eine Drachenelfe, die sich dem Kampf verweigerte! Das hatte es noch nie gegeben.

Ihr Blick schweifte durch das Zimmer. Nodon beobachtete sie voller Sorge. Sie hatten ihr das größte Gemach überlassen. Die wenigen Möbel standen vereinzelt. Mit allen hatte es eine besondere Bewandtnis. Das Bett kam von den Kobolden des Jadegartens, er hatte es stundenlang untersucht, weil er den seltsamen Sinn für Humor des kleinen Volkes fürchtete. Kein Zauber war darauf gesponnen, keines der Beine angesägt. Es war einfach nur ein großes Bett mit angenehm weicher Matratze und einem Kopfende, dessen Schnitzwerk eine Blumenwiese zeigte.

»Dort werde ich stillen«, sagte Nandalee und wies auf ein Möbelstück mit hoher Rückenlehne, das sich nicht ganz entscheiden konnte, ob es Stuhl oder Sitzbank sein sollte. Der Tisch daneben mit glänzenden Bronzebeinen und einer Platte aus grünem Stein, der aus den Felsen des Jadegartens gebrochen war, war hier in der Werkstatt der Veste entstanden.

Nandalee trat ins Zimmer und sah sich weiter um. »Drei Fenster … Das ist schön. Viel Licht ist gut.«

Nodon musste an das fensterlose Geburtshaus denken und war erleichtert, dass sie die Dinge nun anders sah.

Ihre Hand glitt spielerisch über den Barinstein auf dem Tisch, der als abstrakte, sich windende Skulptur gestaltet war. Er würde ihr nicht sagen, dass es ein Geschenk des Dunklen war.

Sie kniete neben der meergrünen Lacktruhe unter dem mittleren Fenster nieder und strich über die spiegelnde Oberfläche. Auf den Truhendeckel und die Seitenwände waren von kunstfertiger Hand springende Delphine gemalt. »Von wem ist die?«