Lag das Geheimnis vielleicht in einer Zeitschleife? Lyvianne trat ins Dunkel der Tempelruinen und folgte dem Weg, den sie zwei Monde zuvor mit dem Devanthar genommen hatte. Wo war der Ebermann? Hier zwischen den alten Mauern wirkte die Stille noch bedrückender, noch unnatürlicher. Ihre Hand tastete nach ihrem Schwert, als sie auf den Stelenhof trat, von dem die Drusnier einst das Bildnis der triumphierenden Išta gestohlen hatten.
Am Fuß einer der unbehauenen Stelen lag der Ebermann. Erst dachte Lyvianne, er schliefe, auf die Seite gerollt, mit angezogenen Beinen. Sie kniete sich neben ihn und sah die Prellungen auf seiner breiten Brust. Rasch suchte sie den Körper des Devanthar ab. Über der Hüfte gab es auch Krallenspuren, als hätte er gegen ein Tier gekämpft. Auf der linken Schläfe entdeckte sie eine große pflaumenfarbene Prellung. Die Elfe tastete nach seinem Hals. Sein Puls ging stark und regelmäßig. Er war nur ohnmächtig. Wer bei den Alben hatte ihn angegriffen?
Ein Schatten fiel über den Hof. Lyvianne stand auf und legte, während sie sich umwandte, die Rechte auf den Griff ihres Schwertes. Gegen das letzte Blau des Abendhimmels hob sich eine große, geflügelte Gestalt ab. Išta!
»Dachtest du wirklich, du könntest in mein Reich kommen und meinen Geheimnissen nachspüren, ohne dass ich es bemerke, Albentochter?«
Lyvianne zog ihr Schwert. Sie tat es langsam, ohne die Devanthar aus den Augen zu lassen. Išta führte den Speer mit langer Klinge, mit dem sie so oft auf ihren Götterbildern gezeigt wurde. »Was geschieht mit dem Ebermann?« Lyvianne tat einen Schritt zur Seite und stellte sich schützend über ihn.
Išta lachte. »Was ist das? Eine Drachenelfe, die einen Devanthar verteidigt? Genau so hat sich der Purpurne einst vor Anatu gestellt. Die Geschichte wiederholt sich. Und was den Ebermann angeht: Er ist mein Bruder. Wir töten einander nicht. Allerdings wird er eine Strafe erhalten. Ich wünsche nicht, dass er zu unseren Geschwistern geht und allen erzählt, was er zu wissen glaubt.«
»Vielleicht werden das die Himmelsschlangen tun. Der Goldene weiß um deinen Verrat an Anatu.«
Išta schwebte ein wenig tiefer. Die Spitze ihres Speers zeigte auf Lyviannes Brust. »Der Goldene … Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen. Er geht seine eigenen Wege.«
Lyvianne bemerkte eine Bewegung weit links von ihr, fast außerhalb ihres Gesichtsfelds. Eine gefiederte Gestalt hatte sich auf einer der Hofmauern niedergelassen, und aus dem Durchgang, der hinauf zu den Terrassengärten führte, trat eine gedrungene, langarmige Gestalt.
»Leg dein Schwert nieder«, forderte der Devanthar im Federgewand. Halb Mensch, halb Raubvogel, sprach er mit rauer, krächzender Stimme. »Du kannst nicht gewinnen, kleine Elfe. Wir waren es, die über den Purpurnen triumphierten. Du weißt selbst am besten, wie groß der Unterschied zwischen dir und einer Himmelsschlange ist. Wir machen dir dieses Angebot nur ein Mal.«
Lyvianne hob ihr schmales Schwert zum Fechtergruß. »Drachenelfen ergeben sich nicht.« Auch ihr war klar, dass sie nicht gewinnen konnte. Aber es lag bei ihr, ob sie ihre Kriegerinnenehre behielt oder auch sie aufgab. Leise flüsterte sie ein Wort der Macht und griff nach den Kraftlinien. Sie wob den Zauber, mit dem Bidayn sich gegen den silbernen Löwen zur Wehr gesetzt hatte, als er sie auf dem Platz vor dem Albenstern in der Goldenen Stadt gestellt hatte.
Einen Augenblick lang schien alles um sie herum langsamer zu werden.
Langarm hob zwei Finger zum Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus.
Lyvianne stürmte ihm entgegen. Dabei schlug sie Haken, als sie zwischen den Stelen hindurchlief, um nicht von Ištas Speer in den Rücken getroffen zu werden.
Der Götterschmied hatte sich ihrem Tempo bereits angepasst. Er trat zur Seite, bevor sie ihn erreichen konnte, und drei große, silberne Wolfshunde sprangen aus dem Durchgang. »Mein Geschenk für dich, Elfe«, rief er spöttisch.
Lyvianne machte einen Satz, stieß sich mit den Füßen von einer der Stelen ab, gewann an Höhe, stieß sich von der gegenüberliegenden Stele ab und landete schließlich auf dem oberen Ende der ersten Stele. Die Wolfshunde umringten sie mit gierig schnappenden Kiefern.
Die Drachenelfe spürte, wie sich das magische Netz gegen sie richtete, weil sie mit ihrem Zauber an das Gefüge der Welt rührte. Sie bewegte sich nun so schnell, dass ein geschossener Pfeil für sie in der Luft stehen bleiben würde. Langarm hielt jedoch mit. »Deine Freundin hat mir einen Löwen zerstört, das wird nicht wieder geschehen. Diese Hunde sind für Elfen wie dich geschaffen. Egal wie sehr du den Lauf der Zeit verzerrst, sie werden sich immer genauso schnell bewegen wie du. Sie sind mit dir und dem Zauber, den du webst, verbunden, deshalb kannst du ihnen nicht entrinnen.«
Aus den Augenwinkeln sah Lyvianne, dass Išta und der Gefiederte offenbar größere Schwierigkeiten hatten, sich ihrem Tempo anzupassen. Beide flogen auf die Stele zu, doch wirkten ihre Bewegungen grotesk langsam.
Wenn die Hunde lediglich genauso schnell waren wie sie und keine weiteren besonderen Kräfte besaßen, konnte sie die Metallbestien vielleicht besiegen. Lyvianne machte einen weiten Satz von der Stele dem Gefiederten entgegen, der wild mit den Flügeln schlagend versuchte, an Höhe zu gewinnen, um ihr auszuweichen. Ihr Schwert beschrieb einen blitzenden Bogen. Kurz spürte sie einen Widerstand, und als sie federnd auf dem Hof landete, schwebte neben ihr, langsam wie eine Feder, eine abgetrennte Kralle zu Boden.
Ihr blieb keine Zeit, den Triumph auszukosten. Sofort umringten die drei Hunde sie. Einem stieß sie ihr Schwert tief in den Rachen, während ein zweiter sie ansprang. Lyvianne duckte sich weg, doch der schwere Metallleib streifte sie noch und riss sie von den Füßen.
Sie rollte zur Seite, sprang auf und griff nach ihrem Schwert, das immer noch im Rachen eines der Hunde steckte.
Langarm stürmte ihr fluchend entgegen, als sie mit metallischem Kreischen ihre Klinge aus dem Hundekiefer frei bekam. Mit beiden Händen hatte sie den Griff ihrer Waffe fest umklammert und wich ein Stück zurück, sodass sie eine Mauer im Rücken hatte und zumindest von dort keine Angriffe fürchten musste. Ihre Linke schmerzte. Sie war überrascht, wie viel weniger fest sie ihre Waffe zu halten vermochte, obwohl doch nur der kleine Finger fehlte.
Statt sie anzugreifen, griff der Schmiedegott nach seinem verwundeten Hund und zerrte ihn aus ihrer Reichweite. Dabei strich er ihm über den Kopf, als wäre er ein lebendes Geschöpf aus Fleisch und Blut. Etwas Dunkles troff aus dem Maul der Bestie.
Die anderen beiden Hunde schlichen vorsichtig vor ihr auf und ab, den Blick auf ihre Klinge gerichtet, als besäßen sie genug Verstand, den Drachenstahl zu fürchten.
Etwas troff auf Lyviannes Wange, und noch während sie aufblickte, wurde ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Der Gefiederte stieß auf sie herab.
Sie ging in die Knie und riss ihr Schwert hoch, um es dem Devanthar in den Leib zu stoßen.
Kaum war die Waffe nicht mehr auf sie gerichtet, sprangen die beiden Hunde vor.
Die Elfe versuchte auszuweichen, doch rammte ihr einer der Metallhunde seinen Kopf in den Unterleib. Sie sackte zur Seite und sah wirbelnde Schwingen über sich. Diesmal war es nicht der Gefiederte, sondern Išta selbst. Das stumpfe Ende ihres Speers sauste herab und traf das Sonnengeflecht dicht über ihrem Magen.
Brennender Schmerz schoss Lyvianne durch alle Glieder. Zugleich verließ sie alle Kraft. Ihre Arme sanken zu Boden. Der Schmied trat ihr auf die Handgelenke. Ihr Schwert entfiel ihren tauben Fingern.
»Nie wieder wirst du eines meiner Geschöpfe töten.« Seine Stimme war ein rasendes Jaulen. Wieder trat er zu. Lyvianne spürte die Knochen ihrer Handgelenke splittern, und ein neuer Schmerz fraß sich in ihr Fleisch.