Am Rande der Ohnmacht, unfähig, noch Widerstand zu leisten, wurde sie hochgezerrt. Ihr wurde schwarz vor Augen, bis eine schallende Ohrfeige sie ins Bewusstsein zurückholte. Ihr Mund war voller Blut. Ihre Arme schmerzten. Sie waren hochgereckt. Enge Fesseln lagen um ihre Handgelenke. Sie hing an einem Seil in einer Kammer, deren Decke so niedrig war, dass sie sie fast berühren konnte, wenn sie ihre Finger streckte.
»Weißt du, wo du bist?«, fragte Išta.
Lyvianne tanzten noch immer Sterne vor den Augen. Sie blinzelte dagegen an und sah hinab. Unter ihr war etwas Spiegelndes. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft. Jetzt erkannte sie die steinerne Wanne in der letzten der geheimen Kammern.
»Mein gefiederter Bruder hat sich gewünscht, dass du das Schicksal Iyalis teilen sollst. Nur haben sich die Vorzeichen verkehrt. Wünschte Iyali sich, dass die Geheimnisse Anatus für immer verborgen blieben, so ist es nun unser Wunsch, dass du nicht mehr sprichst.«
Lyvianne schluckte. Immer mehr Blut spülte in ihren Mund.
»Ich fürchte, mein Bruder ist sehr verärgert. Es war nicht klug, ihm eine seiner Krallen abzuhacken.«
Die Elfe wandte den Kopf. Der Gefiederte hielt das Seil, an dem sie hing. Er hatte Menschengestalt angenommen und nur einen Adlerkopf behalten. Sein linker Fuß blutete. Ihm fehlte ein Zeh.
»Du hättest unser Angebot auf dem Hof annehmen sollen. Du wirst dich noch sehr nach einem schnellen, schmerzlosen Tod sehnen.« Išta klang fast bedauernd. »Ich entschuldige mich für das, was er dir antun wird. Du hast einen guten Kampf geliefert, Elfe. Ich werde dich in Erinnerung behalten. Und nun verzeih, wenn ich gehe, denn Grausamkeiten dieser Art bereiten mir kein Wohlgefallen. Ich möchte das nicht sehen, möchte dich als die stolze Kriegerin in Erinnerung behalten, die du warst.«
Lyvianne wollte etwas antworten, doch sie brachte nur unartikulierte Laute hervor. Blut floss aus ihrem Mund. Und da begriff sie. Ihre Zunge! Sie hatten ihr die Zunge herausgerissen!
Išta bemerkte ihren entsetzten Blick. »Das war die Tat meines Bruders. Er hatte Sorge, dass du ein Wort der Macht flüstern könntest, dass du selbst jetzt noch weiterkämpfen würdest oder versuchen würdest, einen Zauber zu weben, der dich gegen Schmerz unempfindlich macht. Wie sagte er? Deine Schreie sollen ihm ein Pflaster für seine Wunde sein.« Sie lächelte zynisch. »Ein großer Poet ist er nicht. Und ich fürchte, er hat nicht bedacht, dass deine Schreie ohne Zunge recht eigentümlich klingen werden.«
Das Seil, an dem sie hing, ruckte, und Lyviannes Fußsohlen tauchten in die Säure. Ein zischender Laut erklang. Tränen traten ihr in die Augen. Sie bäumte sich auf unter der brennenden Pein. Sie wollte keinen Laut von sich geben, schwor sie sich stumm. Zumindest diese Genugtuung blieb ihr.
»Ich wünsche dir, dass ihn schnell die Geduld verlässt«, sagte Išta. Dann verließ die Göttin die Kammer.
Wieder ruckte das Seil, und Lyvianne tauchte bis zu den Knöcheln ein. Durch den Schleier ihrer Tränen sah sie, wie dunkle Schlieren ihres Blutes durch das Säurebad trieben.
Epilog
Der Goldene ging über die weite Wiese auf die Weiße Halle zu. Tagpfauenaugen flohen in gaukelndem Flug vor ihm und strebten entfernten Blüten zu. Der alte Drache war überrascht, wie schnell die Natur nach der Schule gegriffen hatte. Dunkle Schlieren liefen bei den Fenstern über das weiß getünchte Mauerwerk. Es gab bereits zwei Löcher im Dach, und das äußerste Ende des Westflügels war von Efeu überwachsen.
So lange hatten sie ihre treuesten Diener hier herangezogen. Nun mussten sie die Schule der Drachenelfen verfallen lassen. Zu groß war das Risiko, mehr als ein paar ihrer Getreuen an einem einzigen Ort zu versammeln. Zu groß die Gefahr, diese Schule könnte dasselbe Schicksal erleiden wie die Blaue Halle.
Es würden wohl noch Jahre vergehen, bis sie hierher zurückkehren konnten. Zwar hatten sie auf Nangog einen ersten Sieg errungen, doch war die Macht der Unsterblichen und der Devanthar noch lange nicht gebrochen. Schwermut überkam ihn, als er durch das halb offene Flügeltor in die weite Eingangshalle trat. Unter seinen Füßen raschelte das Laub des letzten Herbstes.
Er hatte es gespürt, als er an seinem Lieblingsplatz in den Bergen lag, in all seiner Größe als Himmelsschlange. Die Sonne auf den warmen Felsen genießend, hatte er über die Zukunft nachgesonnen. Der Krieg um Nangog hatte einen guten Anfang genommen. Bidayn würde den Menschenkindern vielleicht schon in diesem Augenblick die nächste schmerzhafte Niederlage beibringen. Und würde sie lehren, dass es keinen Ort gab, an dem sie vor dem Zorn der Kinder Albenmarks sicher waren.
Er hatte an Bidayn gedacht, als er spürte, wie seine Verbindung zu Lyvianne verblasste. Es war kein kurzer Schmerz gewesen, so wie sonst, wenn einer seiner Drachenelfen starb. Es war ein langes Sich-Trennen geworden. Sie musste einen schlimmen Tod gehabt haben.
Sein Blick schweifte durch die Halle. An beiden Seiten erhoben sich Treppen zu einer holzgetäfelten Galerie. Vor ihm ragte das Standbild eines Kriegers mit Bronzeschild und einem kurzen Schwert aus bläulichem Stahl empor. Alles andere war verschwunden – die Banner aus halb vergessenen Schlachten und vor allem die Waffen, die an den Wänden gehangen hatten. Jede einzelne durchdrungen von der Magie der Drachen. Jede einzigartig.
Im Licht, das durch das beschädigte Dach sickerte, schimmerten die kleinen Messingtafeln unter den leeren Waffenhaltern. Einige hatten schon Grünspan angesetzt. Nur an einer einzigen Stelle blitzte Stahl.
Der Goldene ging einige Stufen hinauf und nahm Lyviannes Schwert von der Wand. Wann immer ein Drachenelf starb, kehrte seine Waffe hierher zurück, selbst wenn ihn das Schicksal in einer anderen Welt ereilte. Nun konnte es keinen Zweifel mehr über ihr Schicksal geben.
Er strich über den blauen Stahl. In so vielen Kämpfen hatte sie ihm gedient. Hatte so viele der verborgenen Schlachten geschlagen, die den Frieden auf Albenmark erhielten.
»Ich werde dich wiederfinden, Lyvianne, ganz gleich, wie lange es dauert. Du bist zur Drachenelfe geboren. So war es immer und so wird es immer sein.«
Er fragte sich kurz, wie viele Jahrhunderte bis zu ihrer Wiedergeburt vergehen mochten.
Sie war ihm eine gute und loyale Kriegerin gewesen. Seltsam, dass sie das Rätsel der Hohepriesterin Iyali nicht durchschaut hatte. Der purpurne Herr des Himmels begegnete Anatu zum ersten Mal im Netz der goldenen Wege, meine Herrin aber traf ihn zum ersten Mal in ihrem Palast aus Mondenlicht.
Išta war es gewesen, die seinem Bruder in Gestalt der Anatu im Goldenen Netz entgegengetreten war. Sie hatte die Gestalt ihrer Schwester angenommen. Sie hatte den nötigen kriegerischen Geist, um den Purpurnen bei der ersten Begegnung zu beeindrucken. Und sein Bruder hatte diese dumme romantische Ader gehabt. Er hatte daran geglaubt, dass Friede zwischen den Alben und den Devanthar möglich war.
Išta musste ihn eingeladen haben, in Anatus Tempel zu kommen. Hatte Anatu ihn darauf angesprochen, dass sie ihm zuvor nicht begegnet war? Wollte sie den Argwohn des Purpurnen nicht wecken und ließ das Rätsel deshalb ruhen? Diese Frage würde wohl immer ein Geheimnis bleiben. Wie es schien, waren die beiden sich erstaunlich nahegekommen. Wie dumm sein Nestbruder gewesen war, nicht darüber zu sprechen!
Išta hatte nichts getan, als abzuwarten. Sie begehrte Anatus Reich. Und sie begehrte den Ruhm, eine große Kriegerin zu sein. Außer auf der Stele, die nach Drusna geschafft worden war, wurde ihr der Sieg über den Purpurnen stets allein zugeschrieben. Sie hatte an Macht und Ansehen gewonnen. Der Gefiederte hatte den Leib des Purpurnen für seine obskuren Rituale bekommen.
Aber warum hatte Langarm mitgemacht? Welchen Nutzen hatte ihm das Komplott gebracht? Auch das würde wohl ein Geheimnis bleiben.
Ištas Tat hatte den Goldenen beeindruckt. Sie war kühl geplant und fast ohne Makel ausgeführt. Die Stele in Drusna und der Ring der Hohepriesterin waren die einzigen Spuren gewesen, die sie hinterlassen hatte. So belanglos, dass weder Devanthar noch Himmelsschlangen darauf gestoßen waren, bis Lyvianne gekommen war. Ohne es zu ahnen, hatte die Drachenelfe viel mehr getan, als für ihn ein wertvolles Geheimnis aufzudecken. Sie hatte ihm einen Weg gewiesen. Seit sie bei ihm gewesen war und ihm berichtet hatte, wuchs ein neuer Plan in ihm. Eine dunkle Intrige. Etwas, das so undenkbar war, dass seine Nestbrüder es niemals aufdecken würden … Er würde diesen Weg nur dann beschreiten, wenn es ihm nicht gelang, Nandalee und ihre Tochter Emerelle töten zu lassen. Noch blieb ihm Zeit. Noch war das Schicksal ihrer Welt nicht entschieden.