»Ist dies nicht eine wunderbare Nacht für die Liebe«, rief Nonnos in so affektiertem Tonfall, als zitierte er irgendeinen berühmten Text. Dabei griff er sich mit der Linken ans Herz, hob seine Augenbrauen und schenkte Bidayn ein durch und durch falsches Lächeln. Nonnos hatte einen spitz zulaufenden Kinnbart, während die Bärte seiner Kameraden wild wuchernd bis zur Brust reichten. »Du bist viel zu hübsch, um so eine laue Sommernacht allein zu verbringen, Elfendame.«
Die drei waren jetzt keine fünf Schritt mehr von ihr entfernt. Ganz offensichtlich waren sie davon überzeugt, dass sie sich einfach nehmen könnten, wonach ihnen gelüstete, und von dem verhuschten, alternden Kindermädchen, das vor ihnen stand, kein ernsthafter Widerstand zu erwarten sei. Bidayn kämpfte den Zorn nieder, der in ihr aufwallte. Der Goldene hatte ihr befohlen, in Uttika zu warten. Sie durfte nicht aus ihrer Rolle fallen, musste um jeden Preis verbergen, was sie wirklich war. »Ihr wisst, dass dieser Ort verflucht ist. Bitte geht! Ich möchte nicht, dass euch ein Unglück widerfährt.«
»Es sind doch eher die Elfenweiber, die kein Glück mit dieser Klippe haben«, entgegnete Krotos, der bislang geschwiegen hatte, mit dunkler, etwas heiser klingender Stimme und einem breiten zahnlückigen Grinsen. »Aber hab keine Angst, wir sind hier, um gut für dich zu sorgen.«
»Ich kann auf mich alleine aufpassen.«
Dion schüttelte den Kopf, sodass ihm die schwarzen, strähnigen Haare um die Schultern flogen. »Glaube ich nicht. Wusstest du, dass sie in der Schenke unten an der Klippe Wetten abschließen, wann du springst? Du wärst die dritte Elfe seit Nevenyll. Und es sind Vollmondnächte wie diese gewesen, in denen sie ihrem Leben ein Ende gesetzt haben. Es heißt, sie treffen Nevenyll in diesen Nächten.« Er sah sich mit einem Stirnrunzeln um, dann zuckte er mit den Schultern. »Also ich sehe hier keinen Geist. Aber vielleicht muss man ja eine Elfe sein, um ihr zu begegnen.«
Dion deutete mit seinem Speer auf sie. Jetzt erst sah Bidayn, dass an der Hand, die die Waffe hielt, zwei Finger fehlten. Der Handrücken und der Unterarm waren mit wulstigen Narben bedeckt, die aussahen, als hätte ein Wolf oder ein großer Hund versucht, ihn zu zerfleischen. »Weißt du, dass die Wetten in dieser Nacht zehn zu eins gegen dich stehen?«
»Und da habt ihr gedacht, ihr schaut vorbei, passt auf mich auf und macht einen guten Schnitt, wenn ich lebend von der Klippe zurückkehre?« Bidayn bedachte sie mit einem zynischen Lächeln. Natürlich wusste sie, dass dies nicht die Absicht der Faune war, aber sie wollte ihnen eine goldene Brücke bauen. Einen letzten Weg.
Der Spitzbart rülpste und rollte mit den Augen. »Daran hatten wir nicht gedacht …«
»Ihr könntet doch neue Wetten abschließen«, wandte Bidayn ein. »Es ist noch Zeit. Schickt irgendeinen Freund, damit es nicht auffällt, und werdet reich.« Sie versuchte, nicht allzu herablassend zu klingen. Diese drei Habenichtse könnten vielleicht ein paar Kupferstücke zusammenbringen und mit der Wette in Silber verwandeln. Reich würden sie ganz gewiss nicht. Dennoch schien Nonnos ernsthaft darüber nachzudenken. Er strich sich über den gestutzten Bart. Eine Geste, die im Widerspruch zu seinem grobschlächtigen Äußeren stand.
»Wir haben für diese Nacht andere Pläne«, sagte Dion barsch. »Lass dich von der Elfe nicht einwickeln, Nonnos! Elfen meinen es nie gut mit uns. Schnapp sie dir! Wir sind nicht zum Reden hier.«
Bidayn atmete aus und ließ die Maske des Kindermädchens fallen. Sie würde wieder sein, wozu man sie in der Weißen Halle gemacht hatte: eine Mörderin. Und sie genoss, endlich wieder von der Macht Gebrauch machen zu können, die ihr geschenkt worden war. »Wie ich sehe, hast du mit deinen Händen schon schlechte Erfahrungen gemacht, Ziegenarsch. Solltest du versuchen, mich anzufassen, landet die Hand, die du nach mir ausstreckst, unten am Fuß der Klippe. Glaube mir, ich mache keine leeren Worte, Dion. Ich würde vorschlagen, ihr drei geht, trinkt noch einen Becher Wein und genießt, dass ihr am Leben seid.«
»Du redest hier nicht mit deinen kleinen Gören, Kindermädchen«, fauchte Dion und deutete mit der Spitze seines Speers auf ihre Kehle. »Und jetzt schlage ich dir was vor, alte Jungfer. Wir werden dir zeigen, was die Bestimmung von Männern und Weibern ist, und wenn du dich bemühst, uns zu erfreuen, dann landest du nicht am Fuß der Klippe.«
»Du bist tot, fingerloser Bock«, entgegnete sie ruhig. Ihre Stimme klang seltsam gedehnt in ihren Ohren. Bidayn spürte, wie die Magie dieses düster-romantischen Ortes sie durchdrang. Spürte die Trauer Nevenylls, die sich wie ein Stempel in das Muster des magischen Netzes geprägt hatte, das alles auf dieser Welt durchdrang und miteinander verband.
Dion lachte auf. »Ein großes Maul hast du. Aber das passt zu dem, was wir mit dir vorhaben. Los, packt sie!«
Nonnos zögerte und zupfte nervös an seinem spitzen Bart. »Und wenn sie …«
»Sei nicht so ein verdammter Schisser«, zischte der schwarzhaarige Krotos und zog seinen Dolch aus dem breiten Ledergürtel, der seinen Lendenschurz hielt. »Sie ist nur ein Kindermädchen, verdammt. Hast du Angst vor Worten? Worte und ein paar Ohrfeigen, das sind all ihre Waffen.«
Bidayn öffnete ihr Verborgenes Auge, und die Magie der Welt wurde für sie sichtbar. Die vielfarbigen Kraftlinien verwandelten sich rings um die drei Faune in das gleißende Rot von Zorn und Wollust. Und da war noch etwas – ein hauchzartes Gespinst um ihre Köpfe. Ein Zauber umgab sie. Fein gewoben, kaum sichtbar.
Die Spitze von Dions Speer berührte Bidayns Kehle dicht unter dem Kinn. Sie durfte sich nicht in der Betrachtung von Details verlieren. Sie musste handeln. Die drei ließen ihr keine Wahl. Bidayn hauchte ein Wort der Macht und veränderte den Lauf der Zeit. Ihre Bewegungen und ihre Wahrnehmung waren nun beschleunigt. Doch die Welt um sie herum blieb nicht stehen, auch wenn es fast so wirkte. Bidayn spürte, wie die Klinge ihre zarte Haut durchdrang und ein Tropfen Blut ihre Kehle hinablief. Das Netz um sie herum begann sich zusammenzuziehen. Es kämpfte gegen den Zauber an, der die natürliche Ordnung der Dinge verhöhnte.
Bidayn schob den Speer zur Seite und nahm in Kauf, dass die Spitze eine dünne blutige Linie auf ihrer Kehle hinterließ. Noch war er nicht zu tief in ihr Fleisch gestoßen.
»Prescht im Ziegengalopp zur Schenke zurück, und ich lasse euch am Leben.«
Bidayn sagte die Worte langsam und gedehnt, doch vermutlich nahmen die drei Faune nur einen unartikulierten Schrei wahr. Sie war nun zu schnell in allem, was sie tat.
Mit einer Drehung fort vom Rand der Klippe hebelte sie Dion den Speer aus der Hand und rammte das stumpfe Ende Krotos mit solcher Kraft gegen die Kehle, dass dem zahnlückigen Faun das Maul aufklappte und der Dolch seiner Hand entglitt. Langsam wie ein Eichenblatt, das an einem windstillen Herbsttag zu Boden sinkt, fiel die Waffe.
Bidayn stieß ein weiteres Wort der Macht hervor und beendete ihren Zauber. Sie spürte die Bewegung hinter ihrem Rücken und stieß den Speer an ihrer Hüfte vorbei nach Dion. Dabei ließ sie Nonnos nicht aus den Augen, der seine Rechte auf den Griff seines Dolches gelegt hatte, es aber nicht wagte, die Waffe zu ziehen.
Die Welt war entschleunigt. Die Zeit verlief auch für Bidayn wieder in gewohnter Bahn: Der schwebende Dolch fiel mit dumpfem Geräusch in das hohe, sonnenverbrannte Gras; Krotos brach in die Knie und umklammerte mit beiden Händen seine Kehle, als wollte er etwas Unsichtbares fortreißen, das ihn würgte. Bidayn wusste, dass der Stoß dem Faun die Luftröhre zerquetscht hatte. Nichts konnte ihn mehr retten. Sein Gesicht wurde rot. Seine Augen traten noch weiter hervor, während die Elfe auf ihren Händen das warme Blut spürte, das am Schaft des Speeres hinabrann.
»Wer … Was bist du?«, stammelte Nonnos und nahm die Hand vom Dolchgriff.
»Kein Opfer.« Bidayn zog mit einem scharfen Ruck den Speer zurück und drehte sich um. Dion kippte zur Seite. Seine großen braunen Augen starrten tot in den Nachthimmel. Die Speerspitze hatte ihn unter dem Rippenbogen getroffen und war schräg nach oben in sein Herz gestoßen.