Er blickte ärgerlich auf, als sie eintrat. Bidayn, die nie zuvor hier gewesen war, beachtete ihn nicht, sondern sah sich ruhig um. Das Kontor war so groß wie eine kleine Lagerhalle. Mindestens zehn Schritt lang und etwa vier breit. Ein unheimliches, magisches Licht erfüllte den Raum. Seine Wände waren bedeckt mit Schränken, deren Türen aus Glas gefertigt waren. Barinsteine, wie sie die Zwerge in ihren unterirdischen Städten nutzten, leuchteten durch gläserne Regale. Es gab ausgestopfte Tiere, Drachenzähne, seltsame Eier, merkwürdige Waffen. Das verbotene Zimmer war halb Kuriositätenkabinett und halb Schatzkammer. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lagen drei aufgeschlagene Bücher. Lange Reihen mit Zahlen füllten ihre Seiten.
Bidayn zog die Türe hinter sich zu. Immer noch betrachtete sie die obskuren Schätze des Kaufherrn. In einem Glaszylinder schwamm eine abgeschnittene Hand, größer noch als die Hand eines Trolls oder Minotaurs.
»Du weißt, dass du nicht hierherkommen darfst!«, stellte Shanadeen sachlich fest. Der Kaufherr hatte über den Büchern mit den Zahlen gesessen. Nun erhob er sich. Er war hochgewachsen, doch dürr. Sein schmales Gesicht war geprägt von einem Feuer, das ihn verzehrte. Unter seiner Dienerschaft gab es viel Gerede. Es hieß, er und Alarion hätten die Apsaras, die Traumleserinnen der Lotussee, besucht und die Eisbärte, rebellische, blutgierige Kobolde, die den Zwergen von Ishaven ihre Schätze raubten. Er spürte jedem Mysterium nach! Nie betrat der Händlerfürst für seine Reisen das Goldene Netz. Er reiste per Schiff oder in Karawanen über das Land. So viele Geschichten hatte Bidayn in den vergangenen Wochen über ihn gehört. Er kannte die Hexerfürsten der Lamassu, hieß es, und war angeblich auch in den Hallen des Trollkönigs der Snaiwamark gewesen. Welches Geheimnis er aber mit solcher Ausdauer suchte, wusste niemand. Freilich wurde geflüstert. Die meisten vermuteten, es habe mit dem Tod Nevenylls zu tun und damit, dass seine beiden Töchter seit dem Freitod ihrer Mutter nicht mehr wuchsen und auch, trotz ihres stattlichen Alters, ihr kindliches Gemüt nicht ablegten. Es schien, als wäre für die beiden die Zeit stehen geblieben.
Der Kaufherr legte die Feder, die er in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. »Dein Dienst in diesem Hause endet hiermit, Bidayn. Du wirst deine Sachen packen und noch in dieser Stunde aus der Stadt verschwinden. Solltest du meinen Befehlen nicht Folge leisten, wird dir Graumur auf den Weg helfen.«
Bidayn nahm seinen Rausschmiss mit einem Lächeln entgegen. Sie hob lasziv beide Hände zum Nacken, hob ihre Haare und öffnete den Verschluss ihres ärmellosen, weißen Kleides, sodass es ihr bis auf die Hüften hinabfiel. »Du willst mich nicht gehen lassen, du willst mich heiraten, Shanadeen«, sagte sie mit gurrender Stimme und ging langsam auf ihn zu.
Auf den Wangen des Kaufherrn zeigten sich rote Flecken. Eine steile Zornesfalte erschien zwischen seinen Brauen. »Bedecke dich!«
»Ist hier zwischen all diesen Dingen zu sitzen wirklich besser, als bei einer Frau zu liegen?«
»Du weißt nicht …«
Sie strich sich über ihre kleinen, vollen Brüste und hob sie mit den Händen leicht an. »Koste von diesen Früchten. Sie werden dich deine Trauer vergessen lassen.«
Der Kaufherr schüttelte sacht den Kopf. Er hatte einen verkniffenen, schmalen Mund, über den sich eine Nase erhob, die an einen Raubvogelschnabel erinnerte. Spitz, leicht gekrümmt. Er schniefte leicht, und ein grausamer Glanz trat in seine grauen Augen. »Hat dir je ein Mann beigelegen, der nicht volltrunken war, Bidayn? Du weißt um deinen Geruch, nicht wahr? Kannst du dir vorstellen, wie oft Lydaine und Farella mich darum gebeten haben, dich fortzuschicken, weil sie den Verwesungsgeruch, der dich umgibt, kaum ertragen können. Jeder in diesem Hause spottet über dich. Die Kobolde nennen dich die Grabfrau und gehen dir aus dem Weg. Selbst die Rosenseife, mit der du dich so leidenschaftlich wäschst, vermag diesen Geruch nicht zu besiegen. Graumur, der sehr offen wird, wenn er trinkt, hat sich einmal dazu verstiegen, mir anzuvertrauen, dass er lieber ein Astloch ficken würde als dich. Ich hatte bisher Mitleid mit dir, Bidayn. Doch das hast du gerade zerstört. Offensichtlich ist es dein Hirn, das fault und den üblen Gestank verbreitet. Und nun nimm deine Sachen und mach dich davon, sonst lasse ich dich aus meinem Haus peitschen!«
»So leidenschaftlich kenne ich dich gar nicht, Shanadeen«, spottete Bidayn. »Hast du dich je gefragt, warum mir der Duft des Grabes anhaftet? Die Antwort ist einfach. Ich bin der Tod.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und beobachtete das Gesicht des Kaufherrn in der spiegelnden Glasscheibe vor sich. Erst war er überrascht vom Anblick der Tätowierung. Dann plötzlich begriff er, was das prächtige Drachenbild auf ihrem Rücken zu bedeuten hatte, und sein Antlitz wurde zu einer Maske blanken Entsetzens.
»Du bist keine …«
Bidayn wandte sich ihm wieder zu. »Doch, ich bin eine. Schau her!« Sie sprach ein Wort der Macht und hob ihre Hände vors Gesicht. Sie dachte an Tuwatis, den Bewahrer der Tiefen Gewölbe, jenen Išta-Priester aus der Goldenen Stadt, bei dessen Ermordung sie mitgewirkt hatte. Sie würde ihn niemals vergessen – er war der erste Mann, mit dem sie das Lager geteilt hatte. Immer noch überkam sie Ekel, wenn sie an ihn dachte. Ihre Finger tasteten über ihre Gesichtsknochen, pressten, formten. Als sie die Hände sinken ließ, hatte sich ihr Antlitz völlig verändert. Sie sah nun aus wie Tuwatis.
»Es ist der Wunsch des Goldenen, dass ich dein Weib werde. Doch ich sehe schon, dass du kein Mann bist, der den Frauen nachstellt. Ich werde dich töten und deine Gestalt annehmen. Und was sagtest du gleich über Lydaine und Farella? Sie haben über meinen Gestank gespottet? Nun, das Spotten soll ihnen vergehen.« Sie zeigte auf eine der dicken Glasscheiben der Schränke. »Ich werde eine Kiste aus Glas fertigen lassen, Lydaine darin einsperren und die Kiste dann langsam voll Wasser laufen lassen. Und die feinfühlige Farella wird dabei zusehen, wie ihre Schwester ertrinkt. Danach werde ich sie an einen Ort bringen, der ihre Nase weit mehr beleidigen wird als der Geruch, der mir anhaftet. Du weißt sicher, wie begierig Bromgar, der König der Trolle, darauf ist, sich hübsche Elfensklavinnen zu halten. Er wird mir Farellas Gewicht in Gold aufwiegen.«
Shanadeen war binnen Augenblicken um Jahrzehnte gealtert. Seine Augen hatten ihren Glanz verloren. Sein Gesicht wirkte eingefallen, und überdeutlich trat das Netz der feinen Falten um seine Augen hervor. »Entschuldigt, Herrin. Ich ahnte nicht, wer Ihr seid. Es tut mir leid …«
Bidayn lachte auf. »Du sagst Entschuldigung und glaubst, damit sei es getan? Wie nanntest du mich eben noch? Die Grabfrau? Und du wolltest mich aus deinem vornehmen Haus peitschen lassen.«
»Bitte, Herrin …« Der stolze Kaufherr kniete vor ihr nieder. »Nehmt mein Leben. Aber verschont meine Kinder. Sie sind unschuldig. Sie …«
»Also willst du mein Ehemann werden und einen jeden in dieser Stadt davon überzeugen, dass dich unbändige Liebe zum Kindermädchen deiner Töchter ergriffen hat?« Bidayn schnalzte mit der Zunge. »Ich glaube, über uns beide wird schon bald sehr viel getratscht werden. Und ich hoffe, du bist gut im Bett. Sonst muss ich dir schon bald Hörner aufsetzen. Was den Tratsch noch einmal befeuern wird …«
Wieder schoss ihm das Blut in die Wangen. Er war prüde und langweilig, dachte Bidayn ärgerlich. Der alte, geile Bock und das Kindermädchen. Diese Geschichte würden die Leute der Stadt nur allzu gerne glauben. Und sie würde über Nacht zu Macht und Einfluss gelangen. Niemand würde sich wundern, wenn sie bald einige eigene Bedienstete anstellte und sich so heimlich ihren Zirkel von Mördern erschuf.
»Ich schlage vor, wir gehen nun ins Haus und verkünden unsere Hochzeitspläne. Was denkst du, wann sollen wir heiraten, Liebster? In drei Tagen? Oder in einer Woche?«