»Zum Beispiel«, sagte Mark, »essen wir unsere eigenen Kinder nicht auf, wenn sie zufällig in Reichweite sind und wir gerade Kohldampf haben.«
»Was?« sagte Gaynor und ließ Messer und Gabel sinken.
»In den Augen eines Erwachsenen ist ein Jungdrache nichts weiter als Futter«, fuhr Mark fort. »Er bewegt sich und hat ein bißchen Fleisch auf den Knochen. Das ist Futter. Natürlich wäre es nicht besonders sinnig, wenn sie all ihre Nachkommen auffressen würden, weil dann die Art aussterben müßte. Die meisten Arten überleben, weil die Erwachsenen den Instinkt entwickelt haben, ihre Kinder nicht zu fressen. Die Drachen überleben, weil ihre Kinder den Instinkt entwickelt haben, auf Bäume zu klettern. Die Erwachsenen sind dazu zu schwer, also sitzen die Kleinen oben in den Bäumen, bis sie groß genug sind. Trotzdem werden einige Babys gefressen, aber das erfüllt auch seinen Zweck. Es hilft den Drachen, wenn das Futter knapp ist, und trägt dazu bei, die Population auf einem gleichbleibenden Niveau zu halten. Manchmal fressen sie die Kleinen aber auch einfach so.«
»Wie viele von den Dingern gibt es denn noch?« fragte ich leise. »Ungefähr fünftausend.«
»Und wie viele waren es ursprünglich?«
»Ungefähr fünftausend. Man geht davon aus, daß, grob geschätzt, immer so viele da waren.«
»Also sind sie eigentlich nicht besonders gefährdet?«
»Doch, sind sie, weil von diesen fünftausend nur dreihundertfünfzig tragende Weibchen sind. Ob das die normale Anzahl ist oder nicht, wissen wir nicht, aber sie erscheint uns eher niedrig. Außerdem sind Tiere, die, wie die Drachen auf diesen paar Inseln hier, in geringer Anzahl auf begrenztem Raum zusammenleben, besonders anfällig für Veränderungen ihrer Lebensräume, und wenn irgendwo Menschen auftauchen, verändern sich diese Lebensräume ausgesprochen schnell.«
»Also sollten wir nicht hier sein.«
»Darüber kann man streiten«, sagte Mark. »Es würde höchstwahrscheinlich irgendwas schiefgehen, wenn das alles hier niemanden interessieren würde. Ein einziger Waldbrand oder eine krankheitsbedingte Abnahme der Wildbestände könnte die Drachen auslöschen. Außerdem stünde zu befürchten, daß die ständig wachsende Inselbevölkerung zu dem Schluß käme, daß es sich ganz gut ohne diese Viecher leben läßt. Es sind äußerst gefährliche Tiere. Es besteht ja nicht bloß die Gefahr, von ihnen gefressen zu werden. Auch wenn man nur gebissen wird, hat man schon richtigen Ärger am Hals. Also, wenn ein Drache ein Pferd oder einen Büffel angreift, wird er nicht unbedingt davon ausgehen, sein Opfer gleich an Ort und Stelle umbringen zu können. Falls der Drache nun in einen Kampf verwickelt wird, könnte er verletzt werden, und da das eigentlich nichts bringt, beißt er sein Opfer manchmal einfach und geht wieder weg. Da die Bakterien, die sich im Speichel des Drachen befinden, allerdings so virulent sind, daß die Wunden nicht verheilen, wird das gebissene Tier normalerweise innerhalb weniger Tage an einer Blutvergiftung eingehen, und anschließend kann der Drache es in aller Ruhe fressen. Er oder ein anderer Drache, wenn der es zufällig vorher findet – sie sind wirklich nicht kleinlich. Für die Art ist es gut und wichtig, daß die Versorgung mit schwerverletzten und sterbenden Tieren überall auf der Insel sichergestellt ist.
Es gab mal einen sehr bekannten Fall, bei dem ein Franzose von einem Drachen gebissen wurde und schließlich zwei Jahre später in Paris gestorben ist. Die Wunde eiterte und heilte einfach nicht. Da es in Paris unglücklicherweise keine Drachen gab, die davon hätten profitieren können, ist die Strategie in diesem einen Fall gescheitert, aber normalerweise funktioniert sie prima. Der Punkt ist einfach, daß man diese Scheißkerle hier auf der Türschwelle liegen hat, und trotz der Toleranz der Dorfbewohner von Komodo und Rinca hat es eine ganze Reihe von Angriffen und Todesfällen gegeben. Also könnte mit der Bevölkerungszunahme auch ein größerer Interessenkonflikt entstehen und gleichzeitig die Bereitschaft abnehmen, sich bei jedem Ausflug in die Gefahr zu begeben, ein Bein abgebissen zu kriegen oder sich die Eingeweide von einem vorbeilaufenden Drachen aus dem Leib reißen zu lassen.
Wie wir ja gesehen haben, ist Komodo mittlerweile ein geschützter Nationalpark. Wir haben den Punkt erreicht, an dem ein aktives und unverzügliches Einschreiten zum Schutz seltener Arten notwendig ist, was üblicherweise durch öffentliches Interesse unterstützt wird. Und öffentliches Interesse wird durch öffentlichen Zugang aufrechterhalten. Wenn man diesen Zugang sorgfältig kontrolliert und die Zerstörung auf ein Minimum begrenzt, funktioniert es prima und ist schön und gut. Glaube ich. Obwohl ich nicht behaupten kann, daß mir dabei ganz wohl ist.«
»Mir ist bei dieser ganzen Insel überhaupt nicht wohl«, sagte Gaynor fröstelnd. »Als ob hier von überallher irgendwas Heimtückisches auf einen zukriecht.«
»Bildest du dir nur ein«, sagte Mark. »Für einen Naturforscher ist es das Paradies.«
Vom Dach der Terrasse war plötzlich ein Glitschen zu hören, und eine große Schlange fiel neben uns zu Boden. Sofort kamen einige Wächter angelaufen und jagten sie zurück in den Busch.
»Das hab ich mir ja wohl nicht eingebildet«, sagte Gaynor. »Ich weiß«, sagte Mark begeistert. »Es ist einfach herrlich.«
Begleitet von Kiri und einem Wächter, zogen wir am Nachmittag los, um die Gegend zu erforschen. Wir fanden zwar keine Drachen, als wir uns unbekümmert durch das Unterholz schlugen, entdeckten aber statt dessen einen Vogel, der mir sofort ans Herz wuchs.
Meinen Ruf als ziemlicher Technik-Freak habe ich mir schwer erarbeitet, und ich bin selten glücklicher als an jenen Tagen, die ich von morgens bis abends damit zubringe, meinen Computer auf das automatische Erledigen einer Aufgabe zu programmieren, die mich bei eigenhändiger Ausführung gute zehn Sekunden kosten würde. Zehn Sekunden, sage ich mir, sind zehn Sekunden. Zeit ist kostbar, und die Einsparung von zehn Sekunden ist es allemal wert, einen Tag fröhlicher Aktivität auf die Suche nach ihrer Einsparungsmöglichkeit zu verwenden.
Der Vogel, auf den wir stießen, heißt Taubenwallnister und hat eine sehr ähnliche Einstellung zum Leben.
Er sieht ein bißchen aus wie ein mageres, lebhaftes Huhn, obwohl er Hühnern gegenüber den Vorteil hat – wenn auch etwas schwerfällig –, fliegen und so den Drachen besser entwischen zu können, die nur in Märchen und einigen der Alpträume fliegen können, von denen ich während meiner Schlafversuche auf Komodo heimgesucht wurde.
Entscheidend ist, daß sich der Taubenwallnister eine wundervolle Methode zur Arbeitseinsparung ausgedacht hat. Die Arbeit, die er sich ersparen möchte, ist das zeitraubende Auf-dem-Nest-Hocken und Eier-Ausbrüten, während er doch zur gleichen Zeit unterwegs sein und etwas erledigen könnte.
An dieser Stelle muß ich einräumen, daß wir genaugenommen nicht auf den Vogel selbst stießen, obwohl wir glaubten, einen durchs Unterholz abzischen gesehen zu haben. Dafür stießen wir aber auf seine arbeitsparende Erfindung, die kaum zu übersehen war. Es handelte sich um einen ungefähr einsachtzig hohen und am Fuß ebenso breiten kegelförmigen Erdwall aus dichtgepreßter Erde und verrottendem Laub. Tatsächlich war der Wall noch wesentlich höher, als er wirkte, weil er selbst in einer wiederum etwa einen Meter tiefen Mulde errichtet worden war.
Ich habe gerade eine gute Stunde damit zugebracht, an meinem Computer ein Programm zu schreiben, das mir unverzüglich das Volumen des Walls mitteilt. Das Programm ist übersichtlich und aufregend, mit allen möglichen Pop-up-Menüs und solchem Zeug, und der Vorteil meiner Arbeitsweise besteht darin, daß ich, falls ich irgendwann den Inhalt eines Taubenwallnister-Nestes ausrechnen will, nur die Grundmaße eingeben muß und von meinem Computer nach einer knappen Sekunde die Antwort erhalte, was natürlich eine wundervolle Zeitersparnis darstellt. Die Kehrseite könnte sein, daß ich wohl nie wieder in die Verlegenheit kommen werde, den Inhalt eines Taubenwallnister-Nestes ausrechnen zu wollen, aber was soll's: Der Rauminhalt dieses Walls betrug knapp sieben Kubikmeter.