Anfangs fiel es mir wirklich schwer, ihre Größe zu schätzen. Wir waren noch nicht nahe genug, das Licht war zu dunstig und zu grau, um sie mit dem Auge richtig erfassen zu können, und das Auge war schlicht und einfach nicht daran gewöhnt, etwas dermaßen Großes mit einer Echsenform in Verbindung zu bringen.
Ich starrte sie eine Zeitlang entgeistert an, bis ich merkte, daß Mark mir auf den Arm klopfte. Ich sah mich um. Ein großer Drache näherte sich uns von der anderen Zaunseite her.
Er war aus dem Unterholz aufgetaucht, wohl wissend, daß die Ankunft von Menschen mit der Fütterungszeit gleichzusetzen war. Später erfuhren wir, daß die in Grubennähe herumhängende Drachengruppe sich kaum mehr von dort entfernte und eigentlich nur noch darauf beschränkte, herumzuliegen und auf die Fütterung zu warten.
Der Waran tappte auf uns zu, klatschte seine Füße aggressiv auf den Boden, zuerst den linken Vorder- und rechten Hinterfuß, dann das andere Beinpaar, und bewegte sich trotz seines großen Gewichtes leicht und federnd mit der schwingenden, entschlossenen Gangart eines Schlägers. Er ließ seine lange, dünne, bleiche, gespaltene Zunge vor- und zurückschnellen und versuchte, den Geruch toter Dinge aus der Luft zu schmecken.
Er erreichte die gegenüberliegende Zaunseite, begann dort unwirsch auf und ab zu wandern und schwang und schürfte seinen schweren Schwanz erwartungsvoll über den staubigen Boden. Die grobe, schuppige Haut hing ihm locker wie ein Kettenhemd vom Körper und bildete unmittelbar hinter seinem länglichen Totenschädel von einem Gesicht eine Reihe kuhartiger Hautfalten. Die Beine des Warans waren stämmig und muskulös und endeten in Klauen, die man normalerweise am Ende von Messingtischbeinen vorzufinden erwartet.
Das Ding ist nur ein Waran und doch bis zu einem geradezu unwirklichen Grad massiv. Wenn er den Kopf über den Zaun hebt und beim Abdrehen mitschwenkt, fragt man sich unwillkürlich, wie es funktioniert und was für ein Trick dahintersteckt.
In diesem Augenblick kam die Touristengruppe fröhlich, unbeeindruckt und neugierig auf das, was anstand, über den Pfad in unsere Richtung gezottelt. Guck mal, da ist einer von diesen Drachen. Ooh, das ist aber 'n Großer. Sieht ja übel aus, der Bursche!
Das Schlimmste sollte aber noch kommen.
Die Ziege wurde in taktvoller Entfernung hinter der Tribüne geschlachtet. Zwei der Parkwächter drückten die ausschlagende, meckernde Kreatur zu Boden, legten ihren Nacken auf einen Holzklotz und hackten ihr mit einer Machete den Kopf ab. Um die heftige Blutung zu stillen, drückten sie das Büschel Laubzweige auf die Wunde. Es dauerte einige Minuten, bis die Ziege sich nicht mehr regte.
Unmittelbar danach schnitten die Wächter ein Hinterbein für den Drachen hinter dem Zaun ab, nahmen den Rest des Ziegenkadavers und befestigten ihn mit dem Haken an dem blauen Nylonseil. Er schaukelte und schwankte im Wind hin und her, als sie ihn zu den in der Grube liegenden Drachen hinunterkurbelten.
Eine Weile zeigten sich die Drachen allenfalls mäßig interessiert. Es waren wohlgenährte und schläfrige Drachen. Schließlich raffte sich einer auf, näherte sich dem hängenden Kadaver und schlitzte sanft dessen weichen Bauch auf. Ein Riesenschlamassel aus Gedärm glitschte aus der Ziege und ergoß sich über den Kopf des Warans. Dort blieb es eine Zeitlang dampfend liegen. Der Waran schien, jedenfalls für den Augenblick, nicht weiter daran interessiert.
Dann wuchtete sich einer der anderen Drachen in Bewegung und kam näher. Er beschnüffelte und bezüngelte die Luft und begann daraufhin, dem ersten Drachen die Innereien der toten Ziege vom Kopf zu fressen, bis dieser ihn anschnauzte und einen Teil der Mahlzeit für sich beanspruchte. Beim ersten Zuschnappen floß eine grüne Flüssigkeit aus dem glänzenden grauen Knäuel, und im weiteren Verlauf der Mahlzeit wurden die Köpfe aller Drachen triefend naß von dieser grünen Flüssigkeit.
»Mensch, so sind sie richtig riesig. Pauline«, sagte ein neben mir stehender Mann, der durch einen Feldstecher sah. »So wirken sie viel größer, als sie sind. Ich sag dir, wenn man da durchguckt, sind sie tatsächlich so groß, wie ich immer gedacht hab.«
Er gab den Feldstecher an seine Frau weiter.
»O ja, das macht wirklich was aus!« sagte sie.
»Der Feldstecher ist echt große Klasse, Pauline. Und nicht mal schwer.«
Andere Mitglieder der Reisegruppe versammelten sich um die beiden.
»Darf ich auch mal gucken? Wem gehört der?«
»Mann, das war was für Howard!«
»Al? Al, guck dir mal den Feldstecher hier an – und fühl mal, wie schwer der ist!«
Als ich gerade nachsichtig anmerkte, der Feldstecher stelle eigentlich nur eine willkommene Ablenkung dar, um sich die höllische Vorstellung in der Grube nicht wirklich ansehen zu müssen, rief die Frau, die ihn im Moment mit Beschlag belegt hatte, fröhlich: »Gulp, gulp, gulp! Alles weg! Was für ein Verdauungssystem! Jetzt hat er uns gewittert!«
»Der will bestimmt richtig frisches Fleisch«, brummte ihr Mann. »Lebendiges, das noch zuckt.«
Tatsächlich dauerte es fast eine Stunde, bis die Ziege restlos verschwunden war, und zu diesem Zeitpunkt hatte die Gruppe bereits schnatternd den Rückweg zum Dorf angetreten. Beim Aufbruch gestand uns eine einsame Engländerin, sie mache sich eigentlich nicht viel aus den Drachen. »Mir gefällt die Gegend«, sagte sie verträumt. »Die Drachen kriegt man halt dazu. Und natürlich ist das Ganze mit all diesen Haken und Ziegen und Touristen wirklich nur eine große Show. Wenn man allein rumlaufen und auf einen von denen treffen würde, ja, das wäre schon was anderes, aber so ist es einfach nur Kasperletheater.«
Nachdem sie alle verschwunden waren, sagte uns der Wächter, wir könnten, falls wir wollten, in die Grube hinunterklettern und uns die Drachen aus der Nähe ansehen, was wir dann auch unter heftigen Schwindelgefühlen taten. Zwei Wächter begleiteten uns, bewaffnet mit langen Stöcken, die sich am Ende gabelten. Damit drückten sie die Drachen am Nacken weg, wenn sie uns zu nahe kamen oder anfingen, aggressiv zu wirken.
Viel zu verängstigt, um wirklich zu begreifen, was wir eigentlich taten, kraxelten und rutschten wir durch eine Rinne nach unten, und binnen weniger Minuten fand ich mich vor dem größten Drachen wieder. Da er schon reichlich gefressen hatte, betrachtete er mich ohne besonderes Interesse. Ein Streifen tropfendes Gedärm hing ihm aus dem offenen Maul, und sein Gesicht glänzte von Blut und Speichel. Das Innere seines Maules war blaß hellrosa gefärbt, und sein stinkender Atem sorgte zusammen mit dem der heißen, fauligen Grubenluft für einen dermaßen überwältigenden Gestank, daß unsere Augen brannten und tränten und wir vor Ekel halb bewußtlos wurden.
Alles, was von der meckernden Ziege übriggeblieben war, der wir über den Weg hinterhergestolpert waren, war ein blutiges, zerfetztes Bein, das am Knöchel vom Haken an dem blauen Nylonseil herunterhing. Nur einer der Drachen interessierte sich noch dafür und kaute lustlos an den Oberschenkelmuskeln herum. Dann bekam er das ganze Bein richtig zu fassen und versuchte, es mit fiesen, ruckartigen Kopfbewegungen vom Haken zu reißen, aber es saß fest. Der Waran zog und zerrte und manövrierte sich selbst immer weiter nach vorn, so daß mehr und mehr von dem Bein in seinem Rachen verschwand, bis nur noch der Huf und der Haken herausragten. Doch schon nach kurzer Zeit gab der Drache es auf, sich damit abzumühen, hockte sich einfach hin und blieb in dieser Pose mindestens zehn Minuten lang reglos sitzen, bis ihm einer der Wächter den Gefallen tat, das Bein unterhalb des Hakens mit der Machete abzuschlagen. Der letzte Ziegenüberrest rutschte dem Echsenmagen entgegen, um dort zusammen mit Knochen, Hufen, Hörnern und allem anderen langsam von den zersetzenden Kräften der Enzyme aufgelöst zu werden, die sich im Verdauungstrakt eines Komodo-Warans aufhalten.