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Mit quietschenden Reifen kamen wir vor dem in eine zwei Meter hohe Steinmauer eingebauten Tor zum Stehen und gingen hinein.

Hinter der Mauer war ein großer, sandiger, von flachen Holzgebäuden und großen Vogelhäusern und Käfigen umringter Innenhof. Die warme Luft war erfüllt von Flügelschlagen, Gurren und scharfen, kräftigen Gerüchen. Mehrere sehr, sehr große Schildkröten krochen ungestört über den Hof, vermutlich, weil jeder in der Lage gewesen wäre, sie auf dem Weg zum Tor einzuholen, falls sie sich überraschend zu einem Ausfallversuch entschlossen hätten.

»Das wären sie dann«, sagte Richard und zeigte auf einen großen, abseits stehenden Käfig, in dem irgend jemand eine Reihe kleiner, kaputter Regenschirme aufgehängt zu haben schien. »Rodrigues-Flughunde. Regt euch ab, jetzt habt ihr sie ja gesehen. Guckt sie euch später an, die sind langweilig. Nichts im Vergleich zu dem, was wir sonst noch hier haben. Fangen wir mal mit den Rosa Tauben an... wir halten hier einige der seltensten, aufregendsten Vögel der Welt. Und wollt ihr mal die echten Stars sehen? Carl sollte sie euch zeigen. Mal sehen, ob er da ist.«

Er war nicht da, dafür aber jemand, der regelrecht in Carl vernarrt war. Richard winkte uns herein.

»Das ist Pink«, sagte er.

Wir sahen hin. Pink starrte uns aufmerksam aus seinen beiden großen, tiefbraunen Augen an. Er zappelte ein bißchen mit dem Fuß, krallte sich an seiner Stange fest und wirkte angespannt, abwartend und ein bißchen irritiert durch unsere Anwesenheit.

»Pink ist ein Mauritiusfalke«, sagte Richard, »aber einer, der grundlegend aus der Art geschlagen ist.«

»Wirklich?« sagte Mark. »Sieht man ihm gar nicht an.«

»Für was würdest du ihn denn halten?«

»Na ja, er ist ziemlich klein. Er hat ein glattes, braunes Deckgefieder an den Flügeln, braun-weiß gefleckte Brustfedern, ein beeindruckendes Krallenpaar...«

»Du findest, mit anderen Worten, daß er wie ein Vogel aussieht.«

»An, ja...«

»Er wäre schockiert, wenn er das wüßte.«

»Was soll das denn heißen?«

»Tja, eines der Probleme bei der Aufzucht von Vögeln in Gefangenschaft ist, daß sie zeitweise von Menschen aufgezogen werden müssen, was zu allen möglichen Mißverständnissen seitens des Vogels führt. Wenn ein Vogel aus dem Ei schlüpft, hat er kein sonderlich klares Bild davon, was in der Welt was ist, und verliebt sich in den ersten, der ihn füttert – in Pinks Fall war es Carl. Das nennt man ›Prägung‹, und die ist ein ernstzunehmendes Problem, weil man sie nicht rückgängig machen kann. Wenn er sich erst mal in den Kopf gesetzt hat, daß er ein Mensch ist, dann ...«

»Er hält sich wirklich für einen Menschen?« fragte ich.

»Ja. Na, wenn er Carl für seine Mutter hält, ergibt sich das ja auch mehr oder weniger von selbst, nicht? Sie sind vielleicht nicht genial, aber sie sind logisch. Er ist vollkommen überzeugt, ein Mensch zu sein. Die anderen Falken ignoriert er völlig, hat keine Zeit für sie, die sind – in seinen Augen – nichts weiter als ein Haufen Vögel. Aber wenn Carl hier reinkommt, rastet er völlig aus. Das ist ein Problem, weil man einen ›geprägten‹ Vogel natürlich nicht in die Wildnis entlassen kann. Er hätte keinen blassen Schimmer, was er da machen soll. Er würde nicht nisten, nicht jagen, er würde nur darauf warten, in Restaurants ausgeführt zu werden und so weiter. Oder zumindest darauf, daß man ihn füttert. Er würde nicht aus eigener Kraft überleben.

Immerhin hat er aber eine sehr wichtige Funktion im Aviarium. Die Jungvögel, die wir hier ausbrüten, erreichen nicht gleichzeitig die Geschlechtsreife. Wenn die Weibchen anfangen, aufreizend zu werden, sind die Männchen also noch nicht in der Lage, damit umzugehen. Die Weibchen sind größer und angriffslustiger, also verprügeln sie die Männchen. Wenn das passiert, sammeln wir Samen von Pink ein und...«

»Wie denn das?«

»Mit einem Hut.«

»Tschuldige, ich habe Hut verstanden.«

»Hab ich auch gesagt. Carl setzt diesen besonderen Hut auf, der ein bißchen aussieht wie ein etwas merkwürdiger Bowler mit Gummikrempe, Pink dreht vor Sehnsucht nach Carl völlig durch, fliegt runter und rammelt den Hut halb tot.«

»Was?«

»Er ejakuliert in die Krempe. Wir sammeln die Samentropfen ein und befruchten ein Weibchen damit.«

»Komische Art, seine Mutter zu behandeln.«

»Er ist ein komischer Vogel. Aber er erfüllt eine nützliche Aufgabe, obwohl er, psychologisch gesehen, eine ziemliche Schramme hat.«

Die Errichtung des Zuchtzentrums auf Mauritius ist einer von Carls größten Reinfällen. Tatsächlich ist es das Ergebnis des höchstwahrscheinlich spektakulärsten und genialsten Reinfalls seines Lebens.

»Daß aus mir ein Versager würde, haben sie sich schon gedacht, als ich noch ein Junge war«, erzählte er, als er später, wirklich fürchterlich spät, auftauchte. »Ich war ein hoffnungsloser Fall, ein totaler Blindgänger. Hab nie irgendwas getan und mich nie für irgendwas interessiert. Na ja, mit Ausnahme von Tieren. Niemand in meiner Schule in Wales hielt es für besonders sinnvoll, sich ausschließlich für Tiere zu interessieren, aber ich hatte, zum Leidwesen meines Vaters, ungefähr fünfzig Stück in Käfigen, die über den ganzen Hinterhof verteilt standen. Dachse und Füchse, walisische Iltisse, Eulen, Bussarde, Aras, Dohlen, alles. Ich hab's sogar schon als Schüler geschafft, Turmfalken zu züchten.

Mein Klassenlehrer meinte, es sei positiv, daß ich mich für Tiere interessiere, nur würde ich es nie zu etwas bringen, weil ich ein lausiger Schüler sei. Eines Tages rief er mich in sein Arbeitszimmer und sagte, ›Jones‹, sagte er, ›das ist einfach nicht mehr tragbar. Du vergeudest dein ganzes Leben, indem du rumläufst und unter Hecken guckst. Du verbringst kein bißchen Zeit mit deinen Schulaufgaben. Du bist ein Versager. Was soll bloß aus dir werden?‹

Ich sagte – und vergeßt nicht, das war in Wales: ›Sir, ich möchte zu tropischen Inseln reisen und Vögel studieren.‹

Er sagte: ›Dazu muß man aber entweder reich oder intelligent sein, und du bist beides nicht.‹

Ich verstand das als eine Art Ermunterung, schaffte es letztlich, ein paar Prüfungen zu bestehen, ging aufs College und dann zum Studieren nach Oxford. Da hörte ich eine Vorlesung von Professor Tom Cade, der ein international anerkannter Experte für Falken ist. Er erzählte uns, wie man in Amerika mit Wanderfalken arbeitete, indem man sie in Gefangenschaft aufzog und die Jungtiere dann wieder in die freie Wildbahn entließ.

Ich konnte es kaum glauben. Das war unheimlich aufregend. Das waren Leute, die losgingen und wirklich etwas taten. Dann sagte er, daß es auf einer Insel namens Mauritius im Indischen Ozean einen sehr seltenen Vogel gebe, vielleicht den seltensten Falken überhaupt, nämlich den Mauritiusfalken, der vom Aussterben bedroht sei, aber möglicherweise durch die Aufzucht in Gefangenschaft gerettet werden könne. Und plötzlich wurde mir bewußt, daß all die Arbeit, die ich mir als Kind in meinem Hinterhof gemacht hatte, dieses Vertrödeln von Zeit mit den Vögeln, unter Umständen dazu beitragen könnte, eine ganze Art vor dem Aussterben zu bewahren.

Ich war hin und weg vor Aufregung und dachte, Mensch, da muß doch was zu machen sein. Also ging ich im Sommer nach Amerika und sah mir dort ein paar Projekte genauer an, begriff, wie man vorging, und schwor mir, daß ich, wenn irgend möglich, nach Mauritius gehen und an der Rettung des Mauritiusfalken mitarbeiten würde.

Daraufhin bekam ich zu hören: ›Tja, Carl, das ist ja schön und gut, daß du nach Mauritius gehen und an der Rettung des Mauritiusfalken mitarbeiten willst, nur gibt es da unten einen Haufen Schwierigkeiten, und du kannst diese Vögel nicht retten. Es sind einfach zu wenige. Nur ein brütendes Pärchen und ein paar Einzelgänger. Und bei all den Problemen vor Ort und ohne Einrichtungen ist einfach nichts zu machen. Es gibt da ein kleines Projekt, aber das muß eingestellt werden. Da noch Mittel zu investieren hieße, gutes Geld aus dem Fenster zu werfen.‹ Aber ich bekam den Job. Den Job, das Projekt einzustellen. Das war der Job, wegen dem ich vor zehn Jahren hergekommen bin: die ganze Geschichte zu beenden beziehungsweise das, was noch davon übrig war. Von all dem hier war damals noch überhaupt nichts da«, sagte er und sah sich in dem Zuchtzentrum um, in dem sie mehr als vierzig Mauritiusfalken, zweihundert Rosa Tauben und sogar hundert Rodrigues-Flederhunde zur schrittweisen Wiedereinführung in die freie Wildbahn herangezüchtet hatten. »Scheint, als müßte ich einräumen«, sagte er mit einem frechen Grinsen, »daß ich auf ganzer Linie versagt habe.«