»Es ist extrem schwierig, an Land zu kommen«, sagte Richard. »Es gibt keine Strände oder Ankerplätze. Man kann nur an sehr ruhigen Tagen hinfahren, und sogar dann muß man vom Boot aus auf die Insel springen. Es ist ziemlich gefährlich. Wenn man sich verschätzt, wird man gegen die Felsen geschleudert. Bisher hatten wir noch keine Todesfälle zu beklagen, aber.. .«
Beinahe hätten sie mich beklagen können.
Wir ließen uns von ein paar Naturforschern, die nach Round Island fuhren, zu einer Bootsreise mitnehmen, ankerten etwa hundert Meter von der felsigen Küste entfernt und setzten in einem Beiboot zum besten Punkt über, den Round Island anstelle eines Ankerplatzes zu bieten hat – einem rutschigen Felsvorsprung namens Pigeon House Rock.
Zuerst sprangen einige Männer in Schwimmwesten aus dem Beiboot in die tosende See, schwammen zum Felsen, kletterten unter größten Schwierigkeiten an seiner Seite hoch und schlitterten schließlich, nach Luft schnappend, auf die Spitze.
Anschließend traten dann nacheinander alle, jeweils drei oder vier gleichzeitig, die Überfahrt im Beiboot an. Um zu landen, mußte man einen kniffligen, auf die Kämme der gegen die Felsspitze anrollenden Wellen abgestimmten Satz nach vorn auf den Felsen machen und abspringen, wenn die Welle unmittelbar vor dem Scheitelpunkt war, damit man den Auftrieb des Bootes mitnehmen konnte. Diejenigen, die bereits auf dem Felsen waren, zogen dabei erst am Tau des Beibootes, riefen Anweisungen und ermutigende Worte durch das Krachen der Wellen, um die Springenden dann zu fangen und an Land zu ziehen. Ich sollte als letzter an Land gehen. Als ich an der Reihe war, war der Seegang stärker und rauher geworden, deshalb schlug jemand vor, ich solle auf der anderen Seite des Felsens landen, wo er zwar wesentlich steiler, dafür aber anscheinend nicht ganz so rutschig war.
Ich versuchte es. Ich sprang von der Kante des sich hebenden Bootes, hechtete auf den Felsen zu, stellte fest, daß er nicht die Bohne weniger glitschig war als auf der anderen Seite, bloß viel steiler, und schlitterte, wobei ich mir Arme und Beine an den gezackten Rändern aufschürfte, völlig ungraziös hinunter in die See. Das Meer schloß sich über meinem Kopf. Ich zappelte unter der Oberfläche herum und versuchte verzweifelt aufzutauchen, aber das Beiboot war genau über mir und knallte mich jedesmal gegen die Felswand, wenn ich an die Oberfläche zu kommen versuchte.
Na fein, dachte ich, das wäre dann klar. Deshalb ist die Insel also vergleichsweise unberührt. Ich unternahm einen letzten Versuch aufzutauchen, genau in dem Moment, als es den am Ufer Stehenden gelang, das Boot von mir wegzudrücken. Dadurch konnte ich meinen Kopf aus dem Wasser heben und mich in einer Felsspalte festklammern. Durch allerhand weiteres Rutschen und Schlittern und Zappeln in der schweren Brandung brachte ich es schließlich fertig, mich aufwärts, bis auf eine Armlänge Entfernung an Mark und die anderen heranzumanövrieren, die mich hastig auf den Felsen zerrten. Ich sackte zu einem triefenden, blutenden Haufen zusammen und bestand darauf, daß es mir gut gehe und mir zum Glück nichts weiter fehle als eine ruhige Ecke, in die ich mich zurückziehen und sterben könne.
Da die See während unserer zwei- bis dreistündigen Fahrt zur Insel ausgesprochen rauh gewesen war und es mir so vorkam, als hätte mein Magen unterwegs annähernd meinem gesamten Körpergewicht entsprechende Mengen ins Meer gewuchtet, fühlte ich mich zu diesem Zeitpunkt eher wacklig und ausgelaugt. Ich verbrachte den Tag auf Round Island wie hinter einer dichten Nebelwand. Während Mark mit Wendy Strahm, der Botanikerin, loszog, um sich auf die Suche nach einigen der Pflanzen- und Tierarten zu machen, die nur auf dieser einen Insel existieren, setzte ich mich benommen neben einer Palme namens Beverly in die Sonne und bemitleidete mich.
Daß die Palme Beverly hieß, wußte ich, weil Wendy mir erzählt hatte, daß sie sie getauft hatte. Es war eine Flaschenpalme, die so heißt, weil sie wie eine Chianti-Flasche geformt ist, und es war eine der letzten acht auf Round Island, der einzigen acht wildwachsenden auf der Welt.
Wer in aller Welt, fragte ich mich, als ich in mehr oder weniger umgänglicher Niedergeschlagenheit neben Beverly saß, läßt sich eigentlich die Namen für Inseln einfallen?
Ich meine, ich saß auf einer der erstaunlichsten Inseln der Welt.
Sie sah äußerst ungewöhnlich aus, so, als gehe der Mond höchstpersönlich aus dem Meer auf – nur daß sie im Gegensatz zum kühlen und ruhigen Mond heiß war und vor Leben nur so wimmelte. Obwohl sie auf den. ersten Blick nichtssagend und öde wirkte, waren die Krater, mit denen die Oberfläche übersät war, voll von blendend-weißschwänzigen Tropikvögeln, glänzenden Telfair's-Glattechsen und Riesen-Taggechos.
Man sollte meinen, daß man, wenn man sich einen Namen für eine solche Insel ausdenken soll, ein paar Freunde einlädt, Wein besorgt und einen netten Abend daraus macht und nicht einfach sagt, och, die ist so 'n bißchen rund, also nennen wir sie doch »Round Island«. Davon abgesehen, ist sie nicht mal besonders rund. Am Horizont lag, gerade noch in Sichtweite, eine andere Insel, die schon wesentlich eher rund war, aber Serpent Island, also Schlangeninsel, heißt, wohl um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß es auf ihr – im Gegensatz zu Round Island – keine Schlangen gibt. Und es war noch eine weitere Insel zu sehen, die sich von einem Gipfel auf der einen Seite ausgehend zur anderen Seite ins Meer neigt und unerklärlicherweise Fiat Island heißt. Mir wurde langsam bewußt, daß derjenige, der den Inseln ihre Namen gegeben hatte, zu diesem Anlaß vermutlich doch eine ganz schöne Feier veranstaltet hatte.
Daß Round Island ein Zufluchtsort für einzigartige Eidechsen-, Gecko-, Boa-, Palmenarten und sogar Gräser geblieben ist, die auf Mauritius schon vor langer Zeit verschwunden sind, liegt nicht nur daran, daß Menschen nur unter größten Schwierigkeiten auf die Insel gelangen, sondern auch daran, daß sie sich als vollkommen landeuntauglich für Ratten erwiesen hat. Round Island ist eine der größten tropischen Inseln der Welt (mit einer Fläche von etwas mehr als einhundertzwanzig Hektar), auf der es keine Ratten gibt.
Nicht daß Round Island unbeschädigt wäre – ganz und gar nicht.
Vor hundertfünfzig Jahren, bevor Seefahrer Ziegen und Hasen auf der Insel einführten, war sie mit Hartholzwäldern bedeckt, die von den nicht heimischen Tieren zerstört wurden. Deshalb wirkt die Insel aus der Ferne und mit einem ungeschulten Auge wie meinem betrachtet, auf den ersten Blick verhältnismäßig öde. Nur ein Naturforscher kann einem sagen, daß die paar komisch geformten Palmen und die auf das heiße, trockene, staubige Land getupften Grasbüschel einzigartig und unbeschreiblich kostbar sind.
Kostbar für wen? Und warum?
Spielt es wirklich für irgend jemanden außer diesem Rudel besessener Naturforscher eine so große Rolle, daß die acht Flaschenpalmen von Round Island die weltweit einzigen sind, die in der Wildnis wachsen? Oder daß die im Botanischen Garten Curepipe auf Mauritius stehende Hyophorbe amaricaulis (eine Palme, die so selten ist, daß sie keinen anderen als ihren wissenschaftlichen Namen hat) das letzte noch existierende Exemplar ihrer Art ist? (Der Baum wurde rein zufällig entdeckt, als der Boden, auf dem er stand, wegen des Baus des Botanischen Gartens gerodet werden sollte. Man hätte ihn um ein Haar gefällt.)
Meines Wissens gibt es kein »tropisches Inselparadies«, das auch nur annähernd dem von diesem Begriff heraufbeschworenen, idealen Phantasiegebilde gleicht oder auch nur dem, was man in Urlaubsprospekten beschrieben findet. Es ist ganz natürlich, das auf die Diskrepanz zu schieben, die wir üblicherweise zwischen dem, was Werber versprechen, und dem, was die Welt zu bieten hat, entdecken. Es überrascht uns nicht mehr sonderlich.
Deshalb kann einen die Erkenntnis wie ein Schlag treffen, daß die Welt, die wir aus den Beschreibungen von Reisenden aus vergangenen Jahrhunderten (oder auch nur vergangenen Jahrzehnten) und Biologen aus unserer Zeit kennen, tatsächlich existiert hat. Der Zustand, in dem sie sich heute befindet, ist lediglich Folge dessen, was wir mit ihr angestellt haben, und die allenfalls milde Enttäuschung, die wir empfinden, wenn wir irgendwo hinfahren und alles ein bißchen heruntergekommen vorfinden, ist nur ein Gradmesser dafür, wie weit wir unsere eigenen Erwartungen schon zurückgeschraubt haben und wie wenig uns bewußt ist, was wir verloren haben. Die Leute, denen genau dies bewußt ist, sind diejenigen, die in heller Aufregung durch die Gegend rasen und das bißchen zu retten versuchen, was noch zu retten ist.