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Es war Mittagszeit, und ein gutes Dutzend Leute saß auf der Terrasse, aß Nudeln und trank Seven-Up; Amerikaner, Holländer, alles, was das Herz begehrt. Wo waren die hergekommen? Und wie waren sie hergekommen? Was war hier eigentlich los?

Vor der Verwaltungshütte stand ein Schild voller Vorschriften, wie zum Beispiel »Melden Sie sich im Nationalpark-Büro«, »Ausflüge außerhalb des Besucher-Zentrums nur in Begleitung von Führern«, »Hosen und Schuhe tragen« und »Achten Sie auf Schlangen«.

Auf dem Boden unter diesem Schild lag ein kleiner, ausgestopfter Drache. Ich sage klein, weil er höchstens einen Meter zwanzig lang war. Er lag flach auf dem Bauch, die vor sich ausgestreckten Vorderbeine und die an seinen langen, spitz zulaufenden Schwanz angelegten Hinterbeine platt auf dem Boden. Als ich ihn entdeckte, war ich zuerst etwas erschrocken, dann ging ich hinauf, um ihn mir anzusehen.

Er öffnete die Augen und sah mich an. Mit einem überraschten Aufschrei machte ich einen Satz rückwärts, was eine Welle höhnischen Gelächters auf der Terrasse auslöste.

»Das ist doch nur ein Drache«, rief ein amerikanisches Mädchen.

Ich ging zu ihr.

»Sind Sie alle schon länger hier?« fragte ich.

»Ach, seit Stunden«, sagte sie. »Wir sind mit der Fähre von Labuan Bajo rübergekommen. Haben die Drachen besichtigt. Stinklangweilig. Das Essen ist grauenhaft.«

»Welcher Fähre?« fragte ich.

»Der, die jeden Tag herfährt.«

»Aha. Verstehe. Von Labuan Bajo aus?«

»Sie müssen rübergehen und sich im Büro ins Gästebuch eintragen«, sagte sie und deutete auf einen Holzbau.

Einigermaßen zerknirscht ging ich zurück und gesellte mich zu Mark und Gaynor.

»Das hatte ich mir vollkommen anders vorgestellt«, sagte Mark, der inmitten unseres kühnen Gepäckberges stand und die vier Hühner in der Hand hielt. »Hätten wir die mitbringen müssen?« fragte er Kiri.

Kiri sagte, es sei immer eine gute Idee, Hühner für die Küche mitzubringen. Andernfalls gebe es nur Nudeln und Fisch zu essen.

»Ich glaube, ich ziehe Fisch vor«, sagte Gaynor.

Kiri erklärte ihr, das sei falsch und daß sie eigentlich Huhn Fisch vorzöge. Leute aus dem Westen, setzte er uns auseinander, zögen grundsätzlich Huhn vor. Das wisse praktisch jeder. Fisch sei nichts weiter als ein billiges Essen für Bauern. Wir würden also Huhn essen, weil das aufregend sei und wir es bevorzugten.

Er nahm die Hühner, die mit einem langen Band zusammengebunden waren, stellte sie neben unserem Gepäck ab und drängte uns die Stufen zum Büro des Nationalparks hinauf, wo uns einer der Parkwächter Fragebögen und Stifte in die Hand drückte. Wir hatten gerade mit dem detaillierten Eintragen unserer Reisepaßnummern, Geburtstage, Heimatländer, Geburtsorte und ähnlichem begonnen, als es draußen mit einemmal zu einem heftigen Tumult kam.

Zuerst beachteten wir den Lärm nicht, weil wir alle Hände voll zu tun hatten, uns an die Mädchennamen unserer Mütter zu erinnern und zu überlegen, wen wir als nächsten Angehörigen auserwählen sollten, aber als der Radau zunahm, begriffen wir plötzlich, daß es sich um das ängstliche Kreischen von Hühnern in Not handelte. Unserer Hühner.

Wir rasten nach draußen. Der ausgestopfte Drache griff unsere Hühner an. Er hatte eins von ihnen im Maul und schüttelte es, verschwand jedoch, als er uns kommen sah, in einer Staubwolke um die Hausecke und über die Lichtung, die mißhandelten, noch immer zusammengebundenen, kreischenden Hühner hinter sich herzerrend.

Als der Drache ungefähr dreißig Meter von uns entfernt war, blieb er stehen, biß die Schnur mit einem fiesen Kopfzucken durch und ließ die restlichen Hühner in Richtung der Bäume wegrennen, wo sie sich kreischend und schreiend in immer kleiner werdenden Kreisen bewegten, während die Parkwächter ihnen hinterherjagten und sie zu umzingeln versuchten. Der Drache, nun befreit von den überzähligen Hühnern, galoppierte ins dichte Unterholz.

Unter allerlei Höflichkeitsbekundungen wie »Nach dir, bitte« und »Nein, bitte nach dir« liefen wir vorsichtig zu der Stelle, wo er verschwunden war, und gelangten schließlich atemlos und etwas nervös dort an. Wir spähten ins Gebüsch.

Der Drache war auf einen großen, vom Unterholz überwucherten Erdwall gekrochen und dort stehengeblieben. Wir konnten wegen der dichten Vegetation nicht näher als bis auf einen Meter an ihn heran, gaben uns allerdings auch keine besondere Mühe.

Er lag ruhig da. Zwischen seinen Zähnen ragte das Hinterteil des Huhns heraus, dessen dürre Beine lautlos in der Luft herumruderten. Die Drachenechse beobachtete uns unbeteiligt mit jenem Auge, das uns zugewandt war – einem runden, dunkelbraunen Auge.

Es hat etwas zutiefst Verstörendes, in ein Auge zu starren, das einen anstarrt, besonders, wenn das starrende Auge beinahe ebenso groß wie das eigene und das Ding, aus dem es starrt, eine Echse ist. Das Blinzeln der Echse war ebenfalls verstörend. Es war nicht die übliche, reflexartige Bewegung, die man von einem Reptil erwartet, sondern ein langsames, bedachtes Blinzeln, das einem das Gefühl vermittelte, die Echse sei sich dessen bewußt, was sie tat.

Nachdem sich das Hühnerhinterteil kurze Zeit freizukämpfen versucht hatte, lockerte der Drache seinen Biß ein wenig, damit sich das Huhn durch seine Bewegungen weiter in den Drachenschlund hineinstoßen konnte. Das wiederholte sich mehrmals, bis nur noch ein einziges dürres Hühnerbein zu sehen war, das grotesk aus dem Maul der Kreatur ragte. Ansonsten bewegte sich die Echse nicht. Sie sah uns einfach nur an. Am Ende waren wir diejenigen, die, von blankem Entsetzen geschüttelt, davonschlichen.

Warum? fragten wir uns, als wir wieder auf der Terrasse saßen und uns mit Seven-Up zu beruhigen versuchten. Alle drei waren wir so aschfahl, als wären wir gerade Zeugen eines gemeinen, heimtückischen Mordes geworden. Aber hätten wir einen Mord beobachtet, hätte uns der Mörder wenigstens nicht so ungerührt ins Auge gesehen wie diese Echse. Vielleicht war es der Eindruck kühler, unerschütterlicher Arroganz, der uns derart aus der Fassung brachte. Nur wußten wir bei all den bösartigen Gefühlen, die wir der Echse anzudichten versuchten, daß es überhaupt keine Echsengefühle waren, sondern unsere eigenen. Diese Echse tat nicht mehr, als ihren Echsen-Beschäftigungen auf einfache, unkomplizierte, echsige Art nachzugehen. Sie wußte nichts von dem Entsetzen, der Schuld, der Schändlichkeit und Widerwärtigkeit, die wir, beispiellos schuldige und schändliche Tiere, ihr aufs Auge zu drücken versuchten. Also prallten all diese Empfindungen, gespiegelt in jenem einen unbeweglichen, desinteressierten Auge, auf uns zurück.

Überwältigt von der Vorstellung, daß wir uns vor unserem eigenen Spiegelbild dermaßen erschrocken hatten, saßen wir stumm da und warteten auf das Mittagessen.

Mittagessen.

Angesichts der bisherigen Ereignisse dieses Tages fiel es uns plötzlich schwer, ein Mittagessen auch nur in Erwägung zuziehen.

Wie sich herausstellte, gab es zum Essen kein Huhn. Es gab kein Huhn, weil der Drache es gegessen hatte. Wie die Küche herausgefunden hatte, daß ausgerechnet das Drachenfutter-Huhn jenes gewesen war, das wir andernfalls zum Mittagessen verspeist hätten, war uns nicht ganz klar, aber immerhin hatten wir es diesem Umstand offenbar zu verdanken, daß wir Nudeln ohne alles bekamen.

Wir unterhielten uns darüber, wie leicht man den Fehler begeht. Tiere zu vermenschlichen und seine eigenen Gefühle und Wahrnehmungen unangemessener- und unpassenderweise auf sie zu übertragen. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, wie es ist, eine extrem große Echse zu sein, genausowenig wie übrigens die Echse, die sich ja gar nicht bewußt war, eine extrem große Echse zu sein, sondern nur den damit zusammenhängenden Tätigkeiten nachging. Auf ihr Verhalten mit Abscheu zu reagieren bedeutete, fälschlicherweise nach Kriterien zu urteilen, die nur bei der Beurteilung menschlichen Verhaltens angemessen sind. Wir alle richten uns in der Welt häuslich ein und lernen auf unterschiedliche Art und Weise zu überleben. Ein für uns erfolgreiches Verhalten funktioniert bei den Echsen nicht und umgekehrt.