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Und Becker fuhr noch immer weiter, bis er eine gewundene, von Panzerketten aufgerissene Bergstraße erreichte und darauf bis hinauf zu jenem Kibbuz weiterfuhr, dem - falls überhaupt irgendeinem Ort auf Erden - sein Herz gehörte: ein Adlerhorst, der auf drei Seiten hoch über dem Libanon aufragte. Der Ort war zuerst 1948 eine jüdische Siedlung geworden, als er als militärischer Stützpunkt errichtet worden war, um die einzige, von Osten nach Westen führende Straße südlich des Litani- Flusses zu kontrollieren. 1952 ließen sich hier die ersten jungen Sabra-Siedler nieder und versuchten, jenes harte, weltliche Leben zu führen, das ursprünglich das zionistische Ideal gewesen war. Seither hatte der Kibbuz gelegentliche Beschießungen, offenkundigen Wohlstand und einen besorgniserregenden Mitgliederschwund überlebt.

Rasensprenger liefen, als Becker eintraf; die Luft war süß vom Duft roter und rosa Rosen. Scheu und gleichzeitig sehr erregt empfingen ihn seine Gastgeber. »Bist du gekommen, um dich endlich bei uns niederzulassen, Gadi? Ist deine Kampfzeit vorbei? Hör zu, da ist ein Haus, das auf dich wartet. Du kannst schon heute Abend einziehen!« Er lachte, sagte jedoch weder ja noch nein. Er bat um Arbeit für ein paar Tage, aber sie konnten ihm so gut wie nichts geben; es ist Saure-Gurken-Zeit, erklärten sie. Obst- und Baumwollernte seien längst abgeschlossen, die Bäume beschnitten und die Felder so weit bestellt, dass man nur noch auf den Frühling warte. Dann, da er beharrte, versprachen sie ihm, er könne im gemeinschaftlichen Speisesaal das Essen austeilen. Was sie jedoch wirklich von ihm wissen wollten, war seine Meinung darüber, wohin das Land gehe - von Gadi, der, falls überhaupt jemand, uns das sagen kann. Was selbstverständlich bedeutete, dass sie sich von ihm vor allem eine Bestätigung ihrer eigenen Auffassungen erhofften - über diese Gauner an der Regierung und den Niedergang der Tel Aviver Politik. »Wir sind hierher gekommen, um zu arbeiten, um für unsere Identität zu kämpfen und Juden zu Israelis zu machen, Gadi! Wird aus uns irgendwann noch mal ein Land - oder sollen wir für alle Ewigkeit ein Schaufenster des internationalen Judentums sein? Welche Zukunft blüht uns, Gadi? Sag es uns!« Diese Fragen richteten sie mit einer gewissen vertrauensvollen Lebhaftigkeit an ihn, als wäre er eine Art Prophet unter ihnen, der ihrem Leben draußen eine neue Innerlichkeit geben könnte; sie konnten ja nicht wissen -zumindest zu Anfang nicht -, dass sie in die Leere seiner eigenen Seele hineinredeten. Und was ist aus all unserem schönen Gerede geworden, dass wir uns mit den Palästinensern schon verständigen werden, Gadi? Der große Fehler sei im Jahre 1967 zu suchen, zu diesem Schluss kamen sie, als sie wie gewöhnlich ihre Fragen selbst beantworteten; ‘67 hätten wir großmütig sein, ihnen einen annehmbaren Vorschlag machen sollen. Wer kann denn großzügig sein, wenn nicht die Sieger? »Wir sind so mächtig, Gadi, und sie so schwach!«

Nach einiger Zeit kamen diese unlösbaren Probleme Becker nur allzu vertraut vor, und wie es seiner in sich gekehrten Stimmung entsprach, ging er allein im Lager umher. Seine Lieblingsstelle war ein zerstörter Wachtturm, von dem aus man direkt hinunterblicken konnte auf eine kleine schiitische Stadt sowie in nordöstlicher Richtung auf die Kreuzfahrer-Festung Beaufort, die damals noch in der Hand der Palästinenser war. Dort erblickten sie ihn an dem letzten Abend, den er bei ihnen verbrachte, wie er ohne jede Deckung dastand und so dicht am elektrischen Grenzzaun wie nur möglich, ohne dass die Alarmanlage losging. Durch die untergehende Sonne war eine Seite von ihm erhellt, während die andere im Dunkeln lag, und, wie er hochgereckt dastand, sah es aus, als fordere er das gesamte Litani-Becken auf, seine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.

Am nächsten Morgen war er wieder in Jerusalem. Nachdem er sich in der Disraeli Street gemeldet hatte, verbrachte er den Rest des Tages damit, durch die Straßen der Stadt zu spazieren, in denen er so manche Schlacht geschlagen und so viel Blutvergießen - sein eigenes nicht ausgenommen - erlebt hatte. Dennoch schien er alles, was er sah, in Frage zu stellen. Verwirrt und benommen starrte er auf die sterilen Bogengänge des wieder aufgebauten jüdischen Viertels; er hockte sich in die Empfangshallen der Wolkenkratzerhotels, die heute die Silhouette Jerusalems verschandeln, und dachte über die Gruppen anständiger amerikanischer Bürger aus Oshkosh, Dallas und Denver nach, die, guten Glaubens und in mittleren Jahren, in Jumbo-Ladungen hierher gebracht worden waren, damit sie mit ihrem Erbe in Verbindung blieben. Er warf einen Blick in die kleinen Boutiquen, die handgestickte arabische Kaftans und arabische Kunst feilboten, deren Echtheit von den Ladenbesitzern garantiert wurde; er lauschte dem harmlosen Geschwätz der Touristen, atmete ihre kostbaren Parfüms ein und hörte, wie sie - freilich unter Wahrung kameradschaftlicher Höflichkeit - sich über die Qualität des nach New Yorker Art zerlegten Ochsenfleischs ausließen, das irgendwie eben doch nicht ganz so gut schmeckte wie daheim. Und er verbrachte einen ganzen Nachmittag im Holocaust-Museum, tief bekümmert beim Anblick der Fotos von Kindern, die jetzt etwa in seinem Alter sein würden, wenn sie überlebt hätten.

Nachdem er all dies gehört hatte, brach Kurtz Beckers Urlaub ab und schickte ihn zurück an die Arbeit. Stell fest, um was es in Freiburg geht, sagte er zu ihm. Kämm die Bibliotheken und unsere Unterlagen durch. Stell fest, wen wir dort kennen, verschaff dir einen Plan von der Universität. Besorg dir Architektenzeichnungen und Stadtpläne. Stell alles zusammen, was wir wissen müssen, und vervielfältige es. Ablieferungstermin: gestern.

Ein guter Kämpfer ist nie normal, erklärte Kurtz Elli, um sich zu trösten. Wenn er nicht ein ausgemachter Dummkopf ist, denkt er zuviel nach.

Insgeheim konnte Kurtz sich nur wundern, wie tief sein noch nicht heimgeholtes Lämmchen ihn nach wie vor erzürnen konnte.

Kapitel 23

Dies war der Tiefpunkt. Es war das schlimmste Loch, das sie in ihren vielen Leben bisher erlebt hatte, ein Ort, den sie vergessen wollte, noch während sie da war, ihr Scheiß-Internat, zu dem auch noch Scheiß-Chauvis kamen, ein Wochenend-Seminar irgendwo draußen in der Wüste, wo aber mit scharfer Munition gespielt wurde. Der ramponierte Traum von Palästina lag eine fünf Stunden lange, knochenschindende Autofahrt jenseits der Berge, und an seiner Stelle hatten sie dieses schäbige kleine Fort, das aussah wie die Kulisse zur Neuverfilmung eines Ritterromans, mit Zinnen aus gelbem Stein, einer steinernen Treppe, deren eine Seite durch Bomben halb weggerissen war, und einem von Sandsäcken geschützten Haupttor mit einer Fahnenstange darauf, deren ausgefaserte Schnüre, an denen nie eine Fahne befestigt wurde, im schneidenden Wind knallten. Soweit sie wusste, schlief kein Mensch in diesem Fort. Es diente der Verwaltung und für Besprechungen sowie dreimal täglich Hammel und Reis; und für die großmäuligen, bis nach Mitternacht dauernden Gruppendiskussionen, bei denen die Ostdeutschen kein gutes Haar an den Westdeutschen ließen, die Kubaner an niemand ein gutes Haar ließen und ein amerikanischer Zombie, der sich Abdul nannte, ein Referat von zwanzig Seiten darüber verlas, wie man von einem Tag auf den anderen den Weltfrieden erreichen könne.

Ihre zweite Begegnungsstätte war ein Kleinkaliber-Schießstand, diesmal kein ausgedienter Steinbruch oben auf einer Hügelkuppe, sondern eine alte Baracke mit verrammelten Fenstern, einer Reihe von Glühbirnen, die an den Eisenträgern montiert waren, und lecken Sandsäcken an den Wänden. Ihre Ziele waren auch nicht ausrangierte Benzinkanister, sondern furchtbar aussehende, lebensgroße Pappkameraden von amerikanischen Marine-Infanteristen mit schaurigen Fratzen, aufgepflanztem Bajonett und dicken Lagen klebenden braunen Papiers an den Füßen, um die Löcher zu flicken, wenn man auf die Kerle geschossen hatte. Der Schießstand war dauernd mit Beschlag belegt, sogar noch mitten in der Nacht; hier wurde großspurig gelacht oder auch gestöhnt, wenn es bei den Wettkämpfen Enttäuschungen gab. Eines Tages kam ein großer Kämpfer, irgendein VIP der Terroristenszene, im Volvo mit Chauffeur vorgefahren; die Baracke musste geräumt werden, solange er schoss. Ein andermal platzte eine Gruppe außerordentlich wilder Schwarzer herein, als Charlies Gruppe gerade Unterricht hatte, feuerte ein Magazin nach dem anderen ab, ohne sich nur im geringsten um den jungen Ostdeutschen zu kümmern, der Charlies Gruppe anführte. »Na, zufrieden, whitey?« schrie jemand mit volltönendem südafrikanischen Tonfall über die Schulter hinweg.