Die Angestellten der Aufzugsfirma streikten, und so war Kurtz gezwungen, die Treppe hinaufzusteigen, doch nichts hätte ihm die gute Laune verderben können. Denn erstens hatte seine Nichte gerade ihre Verlobung mit einem jungen Mann aus seinem eigenen Amt bekannt gegeben - wenn auch nicht gerade verfrüht. Und zweitens war Ellis Bibelkurs gut gelaufen; am Ende hatte sie einen Kaffeeklatsch gegeben, und zu ihrer großen Genugtuung hatte er es geschafft dabei zu sein. Doch das Beste von allem war, dass dem Freiburger Durchbruch noch eine ganze Reihe beruhigender Hinweise gefolgt waren, deren ergiebigster erst gestern aufgefangen worden war, und zwar von einem von Shimon Litvaks Lauschern, der auf einem Beiruter Dach ein superraffiniertes Richtmikrophon ausprobiert hatte: Freiburg, Freiburg und nochmals Freiburg, dreimal auf fünf Seiten erwähnt, was wollte man mehr? Manchmal war das Glück einem eben hold, überlegte Kurtz beim Treppensteigen. Und Glück war nun mal, wie Napoleon und jedermann in Jerusalem wusste, Glück war, was gute Generäle machte. Als er einen kleinen Treppenabsatz erreichte, blieb er stehen, um ein bisschen Atem zu schöpfen und seine Gedanken zu sammeln. Das Treppenhaus war wie ein Luftschutzbunker beleuchtet: mit Drahtgestellen über den Glühbirnen, doch waren es heute die Geräusche seiner eigenen Kindheit im Ghetto, die Kurtz treppauf, treppab von den Wänden des düsteren Rundbaus widerhallen hörte. Ich hatte recht, Shimon nicht mitzunehmen, dachte er. Manchmal kann Shimon einem schon einen Schauder über den Rücken jagen; es täte ihm gut, alles ein bisschen leichter zu nehmen. Die Tür der Wohnung 18 D hatte ein in Metall gefasstes Guckloch und auf der einen Seite von oben bis unten eine ganze Reihe von Riegeln, die Frau Minkel einen nach dem anderen aufmachte wie Schuhknöpfe, wobei sie »Einen kleinen Augenblick, bitte«, rief und immer weiter nach unten kam. Er trat ein und wartete, bis sie geduldig alle wieder zugeschoben hatte. Sie war groß und sah mit ihren leuchtendblauen Augen und dem zu einem akademischen Knoten aufgesteckten grauen Haar sehr gut aus.
»Sie sind Herr Spielberg vom Innenministerium«, informierte sie ihn mit einer gewissen Vorsicht, als sie ihm die Hand gab. »Hansi erwartet Sie. Willkommen. Wenn ich bitten darf.«
Sie machte die Tür zu einem winzigen Arbeitszimmer auf, und dort saß ihr Hansi, verwittert und patrizierhaft wie ein Buddenbrook. Sein Schreibtisch war zu klein für ihn, und das seit vielen Jahren; seine Bücher und Papiere lagen stapelweise um ihn herum auf dem Boden, und zwar nach einer Ordnung, die keineswegs Zufall sein konnte. Der Schreibtisch stand schräg zu einer Fensternische, und die Nische bildete die Hälfte eines Sechsecks, hatte schmale Rauchglasfenster wie Schießscharten und darunter eine eingebaute Sitzbank. Sich behutsam erhebend, suchte Minkel sich mit vergeistigter Würde den Weg durch den Raum, bis er jene kleine Insel erreichte, die nicht von seiner Gelehrsamkeit mit Beschlag belegt worden war. Seine Begrüßung hatte etwas Steifes, und als sie in der Fensternische Platz nahmen, zog Frau Minkel einen Schemel heran und setzte sich entschlossen zwischen sie, gleichsam als wolle sie aufpassen, dass auch alles mit rechten Dingen zuging.
Ein verlegenes Schweigen machte sich breit. Kurtz setzte das verzeihungheischende Lächeln dessen auf, der leider seine Pflicht tun muss. »Frau Minkel, ich fürchte, es gibt da ein paar Dinge aus dem Sicherheitsbereich, bei denen meine Behörde darauf besteht, dass ich sie zunächst unter vier Augen mit Ihrem Mann bespreche«, sagte er. Und wartete wieder, immer noch lächelnd, bis der Professor vorschlug, sie solle doch einen Kaffee machen; was Herr Spielberg davon halte? Widerstrebend zog Frau Minkel sich zurück, nicht ohne ihrem Mann von der Tür aus noch einen warnenden Blick zuzuwerfen. Eigentlich konnte kaum ein Altersunterschied zwischen den beiden Männern bestehen, doch bemühte Kurtz sich ausdrücklich, so zu sprechen, als wende er sich an einen Älteren und über ihm Stehenden, denn das war der Professor gewohnt.
»Herr Professor«, begann Kurtz mit einer Hochachtung, als stünde er an einem Krankenbett, »soviel ich weiß, hat unsere gemeinsame Freundin Ruthie Zadir Sie erst gestern angerufen.« Er wußte das sehr genau, schließlich hatte er daneben gestanden, als Ruthie den Anruf gemacht hatte - und beide Seiten des Gesprächs mitgehört, um ein Gefühl für diesen Mann zu bekommen.
»Ruth war eine meiner besten Studentinnen«, bemerkte der Professor, als habe er einen schweren Verlust erlitten.
»Eine der besten ist sie bei uns ganz gewiss auch«, sagte Kurtz geradezu überschwenglich. »Herr Professor, sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, was für eine Art Arbeit Ruthie bei uns verrichtet?«
Eigentlich war Minkel nicht gewohnt, Fragen zu beantworten, die außerhalb seines Fachbereichs lagen, und so musste er einen Moment überlegen, ehe er antwortete.
»Ich habe das Gefühl, ich sollte etwas sagen«, meinte er linkisch und entschlossen zugleich.
Kurtz lächelte einladend. »Falls es bei Ihrem Besuch hier bei mir um die politischen Ansichten - Sympathien - von Studenten oder ehemaligen Schülern von mir geht, so bedaure ich, nicht mit Ihnen zusammenarbeiten zu können. Denn das sind Kriterien, die ich als nicht legitim betrachte. Diese Diskussion haben wir schon mal gehabt, tut mir leid.« Er schien plötzlich peinlich berührt sowohl von seinen Gedanken als auch von seinem Hebräisch. »Ich stehe hier für etwas, und wenn wir für etwas stehen, dürfen wir kein Blatt vor den Mund nehmen; doch am wichtigsten ist das Handeln. Dafür stehe ich ein.«
Kurtz, der die Unterlagen über Minkel gelesen hatte, wußte ganz genau, wofür er einstand. Er war ein Anhänger Martin Bubers und Angehöriger einer weitgehend in Vergessenheit geratenen idealistisch ausgerichteten Gruppe, die zwischen den Kriegen der Jahre ‘67 und ‘73 für einen echten Frieden mit den Palästinensern eingetreten war. Die Rechten nannten ihn einen Verräter; und wenn man sich in diesen Tagen überhaupt an ihn erinnerte, konnte ihm das gleiche auch von den Linken passieren. Er war das Sprachrohr der jüdischen Philosophie, die Autorität auf dem Gebiet des frühen Christentums, der verschiedenen humanistischen Strömungen in seiner Heimat Deutschland und auf noch dreißig anderen Gebieten; er hatte ein dreibändiges Werk über Theorie und Praxis des Zionismus geschrieben, dessen Stichwortregister allein so dick war wie ein Telefonbuch.
»Herr Professor«, sagte Kurtz. »Ich bin mir durchaus darüber im klaren, welchen Standpunkt Sie in diesen Dingen einnehmen, und ich habe keineswegs die Absicht, mich in irgendeiner Weise in Ihre achtbaren moralischen Ansichten einzumischen.« Er hielt inne, ließ seinem Gegenüber Zeit, sich diese Zusicherung zu eigen zu machen. »Ich darf übrigens doch wohl davon ausgehen, dass es bei Ihrem bevorstehenden Vortrag an der Universität Freiburg gleichfalls um das Thema der Rechte des einzelnen geht, oder? Die Araber - ihre Grundfreiheiten -, ist das nicht das Thema, über das Sie am Vierundzwanzigsten sprechen wollen?« Das konnte der Professor nicht durchgehen lassen. Mit schlampigen Definitionen wollte er nichts zu tun haben. »Mein Thema bei der Gelegenheit ist ein anderes. Es geht dabei um die Selbstverwirklichung des Judaismus nicht durch Eroberung, sondern durch die Beispielhaftigkeit jüdischer Kultur und Moral.«
»Um was geht es denn dabei genau?« erkundigte sich Kurtz huldvoll.
Minkels Frau kehrte mit einem Tablett voller selbstgebackener Kekse zurück. »Sollst du wieder denunzieren?« wollte sie wissen. »Falls er das will, schlag es ihm ab! Und wenn du nein gesagt hast, sag wieder nein, bis er es hört. Was kann er denn mit dir machen? Glaubst du, er schlägt dich mit dem Gummiknüppel?«
»Frau Minkel, ein solches Ansinnen an Ihren Gatten liegt mir völlig fern«, sagte Kurtz ungerührt.
Mit einem Blick, der rundheraus als ungläubig bezeichnet werden muss, zog Frau Minkel sich nochmals zurück. Minkel jedoch machte kaum eine Pause. Falls er die Unterbrechung überhaupt mitbekommen hatte, übersah er sie. Kurtz hatte eine Frage gestellt, und Minkel, der nicht akzeptieren konnte, dass sich irgendein Hindernis dem Wissen entgegenstellte, wollte sie ihm beantworten.