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»Ich werde Ihnen genau sagen, um was es geht, Herr Spielberg«, erwiderte er mit geradezu feierlichem Ernst. »Solange wir einen kleinen jüdischen Staat haben, können wir als Juden demokratisch weiter auf unser Ziel, die jüdische Selbstverwirklichung, zugehen. Haben wir aber erst einmal einen größeren Staat, in dem auch viele Araber leben, müssen wir uns entscheiden.« Mit seinen alten, gefleckten Händen zeigte er Kurtz, um was es ging. »Auf dieser Seite: Demokratie ohne jüdische Selbstverwirklichung. Und auf jener: jüdische Selbstverwirklichung ohne Demokratie.«

»Und wo liegt dann die Lösung, Herr Professor?« erkundigte sich Kurtz. Mit einer wegwerfenden Geste gelehrtenhafter Ungeduld hob Minkel die Hände in die Höhe. Er schien völlig vergessen zu haben, dass Kurtz nicht sein Schüler war.

»Das ist ganz einfach! Ziehen wir uns aus dem Gaza-Streifen und von der West-Bank zurück, ehe wir unsere Werte verlieren! Welche andere Lösung gibt es?«

»Und wie reagieren die Palästinenser selbst auf diesen Vorschlag, Herr Professor?«

Ein bekümmerter Zug trat an die Stelle von Professor Minkels bisheriger Zuversicht. »Sie schimpfen mich einen Zyniker«, sagte er.

»Ach, wirklich?«

»Ihnen zufolge will ich sowohl den jüdischen Staat als auch Mitgefühl und das Verständnis der Welt. Deshalb, behaupten sie, sei ich, was ihre Sache betreffe, subversiv.« Die Tür ging wieder auf, und Frau Minkel trat mit Kaffeekanne und Tassen ein. »Aber ich bin nicht subversiv«, sagte er Professor verzagt -weiter kam er allerdings nicht, dank seiner Frau.

»Subversiv?« wiederholte Frau Minkel echogleich, setzte aufgebracht das Geschirr ab und lief puterrot an. »Nennen Sie Hansi subversiv? Weil wir aus unserem Herzen keine Mördergrube machen und freimütig sagen, was hier in diesem Land passiert?«

Selbst wenn er es versucht hätte, es wäre Kurtz nicht gelungen, sie aufzuhalten; er machte aber auch gar keine Anstalten. Er ließ sie zu Ende reden.

»Im Golan, die Auspeitschungen und die Folterungen? In der West-Bank, wie sie sie da behandeln, schlimmer als die SS? Im Libanon, im Gaza-Streifen? Ja, sogar hier in Jerusalem, wo wir die arabischen Jugendlichen herumschubsen, bloß weil sie Araber sind! Und wir sollen subversiv sein, bloß weil wir es wagen, über Unterdrückung zu reden, bloß weil uns keiner unterdrückt - Juden aus Deutschland, und dann subversiv in Israel?«

»Aber, Liebchen...«, wollte der Professor verlegen vermitteln. Doch Frau Minkel war offensichtlich eine Dame, die es gewohnt war zu sagen, was sie wollte. »Wir konnten die Nazis nicht aufhalten, und jetzt können wir uns selbst nicht aufhalten. Da haben wir jetzt unser eigenes Land, und was machen wir? Wir erfinden vierzig Jahre später einen neuen verlorenen Stamm. Heller Wahnsinn! Und wenn wir es nicht sagen, wird es die Welt tun. Sie sagt es ja schon jetzt. Lesen Sie doch die Zeitungen, Herr Spielberg!« Wie um einen Schlag abzuwehren, hatte Kurtz den Unterarm erhoben, bis er sich zwischen ihrem Gesicht und dem seinen befand. Doch sie war längst noch nicht fertig. »Diese Ruthie», sagte sie und verzog voller Abscheu den Mund. »Ein guter Kopf! Hat drei Jahre unter Hansi studiert! Und was macht sie? Tritt in den Apparat ein!«

Kurtz nahm die Hand herunter und ließ erkennen, dass er schmunzelte. Nicht, dass er sich lustig machte oder zornig gewesen wäre; er schmunzelte nur mit dem verwirrten Stolz des Mannes, der die erstaunliche Vielfalt seines Volkes wahrhaft liebte. Er rief: »Bitte!«, wandte sich flehentlich an den Professor, doch Frau Minkel hatte noch unendlich viel zu sagen.

Schließlich hörte sie jedoch auf, und als sie soweit war, bat Kurtz sie, ob sie nicht doch Platz nehmen und zuhören wolle, was er zu sagen habe. So setzte sie sich wieder auf den Hocker und wartete darauf, beschwichtigt zu werden.

Kurtz gab sich Mühe, besonders freundlich zu sein, und wählte seine Worte mit großem Bedacht: Was er zu sagen habe, sei hoch geheim, sagte er, Geheimeres gebe es gar nicht. Nicht einmal Ruthie Zadir - eine ausgezeichnete Beamtin, die jeden Tag mit Geheimsachen umgehe -, nicht einmal Ruthie Zadir wisse davon, sagte er; das stimmte zwar nicht, aber was soll’s? Er sei nicht wegen der Schüler des Herrn Professors gekommen, sagte er, und schon gar nicht, um ihn der Subversion zu bezichtigen oder um sich mit ihm über seine hehren Ideale zu streiten. Er sei einzig wegen des Vortrags gekommen, den der Herr Professor in Freiburg zu halten gedenke und der die Aufmerksamkeit gewisser extrem negativer Elemente erregt habe. Endlich rückte er damit heraus, um was es eigentlich ging.

»Das jedenfalls ist die traurige Tatsache«, sagte er und holte tief Atem. »Wenn es nach einigen von diesen Palästinensern ginge, für deren Rechte Sie beide so mutig eingetreten sind, werden Sie am Vierundzwanzigsten dieses Monats in Freiburg keinen Vortrag halten. Ja, werden Sie nie mehr einen Vortrag halten, Herr Professor.«

Er hielt inne, doch seine Zuhörer hatten offensichtlich nicht die Absicht, ihn zu unterbrechen. »Aus den uns jetzt zur Verfügung stehenden Informationen geht eindeutig hervor, dass eine ihrer weniger akademisch ausgerichteten Gruppierungen in Ihnen einen gefährlichen Gemäßigten sieht, der imstande ist, den reinen Wein ihrer Sache zu verwässern. Genauso, wie Sie es mir eben gesagt haben, Herr Professor, nur noch schlimmer. Es wird behauptet, Sie träten für die Bantustan-Lösung des Palästinenser-Problems ein. Und seien ein trügerisches Licht, das die Schwachköpfigen unter ihnen verleiten könnte, sich zu einem weiteren verheerenden Zugeständnis den zionistischen Gewaltherrschern gegenüber bereit zu finden.«

Freilich bedurfte es viel, viel mehr als einer bloßen Todesdrohung, um den Professor zu bewegen, sich mit einer unüberprüften Sachlage abzufinden.

»Verzeihen Sie«, sagte er scharf, »aber das entspricht genau der Beschreibung, die nach meiner Rede in Beer Sheva in der palästinensischen Presse erschien.«

»Und genau dorther haben wir sie, Herr Professor«, sagte Kurtz.

Kapitel 24

Sie kam am späten Nachmittag mit dem Flugzeug in Zürich an. Sturmlichter säumten die Landebahn und leuchteten vor ihr auf wie der Pfad, der sie dem bewusst gewählten Ziel entgegenführte. Verzweifelt hatte sie versucht, ihre Gedanken zu sammeln, doch hatte sie das Gefühl, dass sie nur eine Zusammenballung ihrer alten Frustrationen waren, gereift und auf die heruntergekommene Welt gerichtet. Jetzt wußte sie einfach, dass nichts, aber auch gar nichts Gutes an ihr war; jetzt hatte sie mit eigenen Augen die Todesqualen gesehen, die der Preis für den westlichen Überfluss waren. Sie war die, die sie immer gewesen war: eine Ausgestoßene, die sich wütend wehrte; nur mit dem Unterschied, dass die Kalaschnikow ihre nutzlosen Koller ersetzt hatte. Die Sturmlichter schossen wie brennende Wrackteile an ihrem Fenster vorüber. Die Maschine setzte auf. Allerdings stand auf ihrem Ticket Amsterdam, und theoretisch würde sie erst später landen. Alleinreisende Mädchen, die aus dem Nahen Osten zurückkehren, sind verdächtig, hatte Tayeh ihr bei ihrer letzten Einsatzbesprechung in Beirut gesagt. Unsere erste Aufgabe ist es, Sie mit einer respektableren Herkunft auszustatten. Fatmeh, die gekommen war, um sie zum Flugplatz zu bringen, hatte es weniger allgemein ausgedrückt: »Khalil hat befohlen, dass du bei deiner Ankunft eine neue Identität annimmst.«

Beim Betreten der völlig leeren Transithalle hatte sie das Gefühl, die erste Pionierin zu sein, die je ihren Fuß hierhersetzte. Musik vom Band lief ab, doch es war niemand da, der sie hörte. In einem eleganten Geschäft wurden Schokoladenbären und Käse feilgeboten, doch es war leer. Sie ging aufs Klo und unterzog ihr Aussehen einer eingehenden Musterung. Ihr Haar war zu einem Bubikopf geschnitten und undefinierbar braun gefärbt. Tayeh selbst war in der Beiruter Wohnung umhergehumpelt, als Fatmeh ihr Schlachtfest veranstaltet hatte. Kein Make-up, kein Sexappeal, hatte er befohlen. Sie trug ein schweres braunes Kostüm und eine leicht astigmatische Brille, durch die sie linste. Jetzt brauche ich nur noch einen Canotier und einen Blazer mit Wappen darauf, dachte sie. Sie hatte sich schon verdammt weit entfernt von Michels revolutionärer poule de luxe.