Ein pummeliges, verwirrt wirkendes Mädchen erwartete sie. Sie trug eine Schürze über weiten schwarzen Hosen, und ihr Haar trug sie geschnitten wie ein Junge. Eine Pistolentasche mit einer Smith & Wessen darin hing über ihrer fetten Hüfte. Verona wischte sich die Hände an der Schürze ab, dann schüttelten sie sich bürgerlich die Hände.
»Vor einem Jahr war Verona genauso faschistisch wie ihr Vater«, verkündete Helga mit der Autorität des Besitzers. »Sklavin und Faschistin in einem. Und jetzt kämpft sie. Stimmt’s, Vero?« Wieder entlassen, verschloss Verona die Tür und zog sich in eine Ecke zurück, wo sie auf einem Camping-Kocher irgend etwas kochte. Charlie fragte sich, ob sie wohl insgeheim vom Schreibtisch ihres Vaters träumte.
»Komm. Schau, wer noch hier ist«, sagte Helga und trieb sie weiter durch den Raum. Charlie blickte sich rasch um. Sie befand sich auf einem großen Dachboden, genau wie der, auf dem sie während der Ferien in Devon unzählige Male gespielt hatte. Die schwache Beleuchtung stammte von einer Ölfunzel, die von einem Dachsparren herunterhing. Vor die Dachfenster hatte man dicke Lagen von Samtvorhängen genagelt. Ein lustiges Schaukelpferd hob an einer Wand die Beine; daneben stand auf einer Staffelei eine Schreibtafel. Ein Straßenplan war darauf gezeichnet, und farbige Pfeile zeigten auf ein großes rechteckiges Gebäude in der Mitte. Auf einem alten Tischtennistisch lagen Reste von Salami, Schwarzbrot und Käse. Vor einem Ölofen hingen Kleidungsstücke für beide Geschlechter zum Trocknen. Die beiden waren vor einer kurzen Holztreppe angelangt, und Helga stieg mit ihr hinauf. Auf dem erhöhten Fußboden lagen zwei Wasserbetten nebeneinander. Auf dem einen, bis zur Hüfte und noch weiter hinunter nackt, lehnte der dunkelhaarige Italiener, der Charlie an jenem Sonntag morgen in der Londoner City mit der Pistole in Schach gehalten hatte. Er hatte sich eine zerfetzte Decke über die Oberschenkel gelegt, und sie bemerkte um ihn herum die auseinander genommenen Teile einer Walther-Automatic, die er gerade reinigte. Ein Transistorradio neben seinem Ellbogen spielte Brahms.
»Und hier haben wir den energiegeladenen Mario«, verkündete Helga mit sarkastischem Stolz und berührte mit dem Zeh seine Genitalien. »Mario, du bist absolut schamlos, weißt du das? Bedeck dich augenblicklich, und begrüße unseren Gast. Ich befehle es dir.« Doch Marios einzige Reaktion bestand darin, sich spielerisch an den Rand des Bettes zu rollen und so zu sich einzuladen, wer immer Lust hätte. »Wie geht’s dem Genossen Tayeh, Charlie?« fragte er dann. »Du musst uns den neuesten Familientratsch erzählen.« Als ein Telefon klingelte, wirkte das wie ein Schrei in einer Kirche - und auf Charlie um so erschreckender, als ihr nie in den Sinn gekommen war, dass sie eines haben könnten. Um Charlies Stimmung zu heben, hatte Helga vorgeschlagen, sie sollten alle auf Charlies Wohl anstoßen und dabei ein bisschen plaudern. Sie hatte Gläser und eine Flasche auf einem Brotbrett balanciert und war gerade dabei, dieses feierlich durch den Raum zu tragen. Doch als sie das Klingeln vernahm, erstarrte sie zur Salzsäule, setzte das Brotbrett auf dem zufällig in der Nähe stehenden Tischtennistisch ab. Rossino stellte das Radio aus. Das Telefon stand allein auf einem kleinen Intarsientischchen, das Verona und Helga noch nicht verfeuert hatten; es war einer jener altmodischen Wandapparate mit extra Hörmuschel. Helga stand daneben, machte jedoch keinerlei Anstalten, den Hörer abzunehmen. Charlie hörte, wie es achtmal laut klingelte, ehe es endlich aufhörte. Helga blieb, wo sie war, und ließ die Augen nicht vom Apparat. Splitterfasernackt marschierte Rossino ungeniert ans andere Ende des Raums und schnappte sich ein Hemd, das auf der Wäscheleine hing.
»Er hat gesagt, er ruft morgen an«, beschwerte er sich, als er sich das Hemd über den Kopf zog. »Was ist denn plötzlich los?«
»Halt den Mund!« fuhr Helga ihn an.
Verona rührte weiter um, was immer sie kochen mochte, nur etwas langsamer vielleicht, als ob Schnelligkeit gefährlich wäre. Sie gehörte zu jenen Frauen, bei denen alle Bewegungen aus den Ellbogen zu kommen scheinen.
Wieder klingelte das Telefon, zweimal, und diesmal hob Helga den Hörer sofort ab, um ihn gleich wieder aufzulegen. Als es dann jedoch wieder klingelte, meldete sie sich mit einem knappen »Ja?« und lauschte, ohne zu nicken und ohne zu lächeln, vielleicht insgesamt zwei Minuten, ehe sie wieder auflegte. »Die Minkels haben ihre Pläne geändert«, verkündete sie. »Die heutige Nacht verbringen sie in Tübingen, wo sie Freunde an der Universität haben. Sie reisen mit vier großen Koffern und vielen kleinen Stücken und einer Aktentasche.« Mit einem sicheren Instinkt für Wirkung nahm sie einen feuchten Lappen aus Veronas Waschbecken und wischte die Tafel sauber. »Die Aktentasche ist schwarz und hat ganz einfache Scharniere. Und der Raum, in dem der Vortrag gehalten werden sollte, ist auch gewechselt worden. Die Polizei ist zwar nicht argwöhnisch, wohl aber nervös. Sie treffen so genannte spürbare Sicherheitsvorkehrungen.«
»Und was ist mit den Bullen?« sagte Rossino.
»Die Polizei möchte die Anzahl der Wachen vergrößern, doch das weist Minkel weit von sich. Er ist sozusagen ein Mann von Grundsätzen. Wenn er über Gesetz und Gerechtigkeit spricht, kann er nicht zulassen, von Geheimpolizei umringt zu sein. Für Imogen hat sich nichts geändert. Ihre Befehle sind immer noch dieselben. Es ist ihr erster Einsatz. Sie wird der Star des Abends sein. Nicht wahr, Charlie?«
Plötzlich waren alle Augen auf sie gerichtet - die von Verona mit hirnloser Starre, die von Rossino mit einem anerkennenden Grinsen und die von Helga mit jener freimütigen Offenheit, der so etwas wie Selbstzweifel wie immer völlig fremd war.
Sie lag flach da und benutzte den Unterarm als Kopfkissen. Ihr Schlafzimmer war nicht die Empore in einer Kirche, sondern eine Dachkammer ohne Licht und Vorhänge. Ihr Lager bestand aus einer alten Rosshaarmatratze und einer nach Kampfer riechenden vergilbten Wolldecke. Helga saß neben ihr und strich ihr mit kräftiger Hand über das gefärbte Haar. Mondlicht drang durch die Dachluke; der Schnee schuf sein eigenes tiefes Schweigen. Hier sollte jemand ein Märchen schreiben. Mein Geliebter sollte das elektrische Kaminfeuer anstellen und mich im Schimmer seiner roten Glut nehmen. Sie war in einer Blockhütte, sicher vor allem außer dem Morgen. »Was ist denn, Charlie? Mach die Augen auf. Magst du mich nicht mehr?«
Sie schlug die Augen auf und starrte vor sich hin, ohne etwas zu sehen oder zu denken.
»Träumst du immer noch von deinem kleinen Palästinenser? Machst du dir Sorgen darüber, was wir hier tun? Möchtest du lieber aufgeben und fortlaufen, solange noch Zeit dazu ist?«
»Ich bin müde.«
»Warum kommst du denn nicht rüber und schläfst mit uns? Wir könnten bumsen. Dann könnten wir schlafen. Mario ist ein klasse Liebhaber.«
Helga beugte sich über sie und küsste sie auf den Hals.
»Oder möchtest du lieber, dass Mario dich allein besucht? Du bist schüchtern? Selbst das erlaube ich dir.« Sie küsste sie nochmals, doch Charlie lag kalt und verkrampft da, ihr Körper wie aus Eisen.
»Morgen Abend wirst du vielleicht weniger abweisend sein. Khalil gegenüber gibt es kein Nein. Er ist schon jetzt fasziniert davon, dich kennen zu lernen. Er hat ausdrücklich dich verlangt. Weißt du, was er einem Freund von uns mal gesagt hat? ›Ohne Frauen würde ich meine menschliche Wärme verlieren und als Soldat versagen. Wer ein guter Soldat sein will, braucht vor allem Menschlichkeit.‹ Vielleicht kannst du dir vorstellen, was für ein großer Mann er ist. Du hast Michel geliebt, deshalb wird er dich lieben. Das ist überhaupt keine Frage. So.«
Helga gab ihr noch einen letzten, ein wenig längeren Kuss und verließ den Raum, und Charlie legte sich auf den Rücken und verfolgte mit weit geöffneten Augen, wie die späte Nacht langsam im Fenster heller wurde. Sie hörte, dass der klagende Schrei einer Frau zu einem flehentlichen, unterdrückten Schluchzen wurde; dann den drängenden Ruf eines Mannes. Helga und Mario trieben die Revolution ohne ihren Beistand weiter. Folge ihnen, wohin sie dich auch führen, hatte Joseph gesagt. Und wenn sie dir befehlen, jemand umzubringen, bring jemand um. Dafür sind wir verantwortlich, nicht du.