Wo wirst du sein?
Nahe.
In der Handtasche hatte sie eine Mickey-Maus-Taschenlampe mit einem winzigen Lichtstrahl, jene Art von Taschenlampe, mit der sie im Internat unter der Bettdecke gespielt hätte.
Zusammen mit Rachels Päckchen Marlboro nahm sie sie heraus. Es waren noch drei Zigaretten übrig, die sie lose wieder zurücksteckte. Vorsichtig, wie Joseph es ihr beigebracht hatte, entfernte sie das Zellophanpapier, riss die Pappe der Schachtel auf und breitete sie flach aus, die Innenseite nach oben. Dann feuchtete sie den Finger an und verrieb sacht den Speichel auf der leeren Pappe. Die Buchstaben wurden in Braun sichtbar, fein gestrichelt wie mit einer Zeichenfeder. Sie las die Botschaft und stopfte das flach zusammengelegte Päckchen in eine Spalte zwischen den Bodendielen, bis sie verschwand und nichts mehr davon zu sehen war.
Mut! Wir sind bei dir! Das ganze Vaterunser auf einem Stecknadelkopf.
Ihre Einsatzzentrale im Freiburger Stadtzentrum war ein Hals über Kopf angemietetes Büro zu ebener Erde in einer lebhaften Hauptstraße, ihre Tarnung die Walker & Frosch Investment Company GmbH, eine der Dutzende von Firmen, die Gavrons Sekretariat ständig eingetragen hielt. Ihre Kommunikationsausrüstung sah mehr oder weniger so aus wie kommerzielle Software; außerdem hatten sie dank Alexis’ Entgegenkommen drei normale Telefone, von denen eines, das am wenigsten offizielle, den direkten Draht des Doktors zu Kurtz darstellte. Es war früher Morgen nach einer aufregenden Nacht, die sie zunächst mit der heiklen Aufgabe verbracht hatten, Charlie aufzuspüren und das Haus zu überwachen; hinterher hatte es noch eine heftig geführte Auseinandersetzung zwischen Litvak und seinem westdeutschen Gegenstück darüber gegeben, wo man sich gegeneinander abgrenzte, denn Litvak geriet mittlerweile mit jedem in Streit. Kurtz und Alexis hatten sich klüglich aus diesem Geplänkel zwischen Untergebenen herausgehalten. Die allgemeine Übereinkunft erwies sich als tragfähig, und Kurtz hatte noch kein Interesse, es zu brechen. Sollten Alexis und seine Leute ruhig den Ruhm einheimsen; Litvak und die seinen würden sich mit der Genugtuung begnügen.
Was Gadi Becker betraf, so war er wieder im Krieg. Da es nun jeden Augenblick losgehen konnte, hatte sein Verhalten etwas gebändigt und entschlossen Behendes. Die Selbstprüfungen, die ihn in Jerusalem heimgesucht hatten, waren gewichen; die nagende Ungewissheit des Wartens war vorbei. Während Kurtz unter einer Armeewolldecke döste und Litvak nervös und völlig erschöpft auf und ab tigerte oder kryptisch in das eine oder andere Telefon sprach und sich in eine unbeschreibliche Laune hineinsteigerte, stand Becker an den Jalousien des breiten Fensters Wache und schaute geduldig hinauf zu den schneeverhüllten Bergen auf der anderen Seite der olivgrünen Dreisam. Denn genauso wie Salzburg, ist auch Freiburg eine von Bergen umringte Stadt, in der jede Straße zu ihrem eigenen Jerusalem hinaufzuführen scheint.
»Sie ist in Panik«, verkündete Litvak Beckers Rücken plötzlich.
Verwirrt drehte Becker sich um und sah ihn an.
»Sie ist zu ihnen übergegangen«, behauptete Litvak. Seine Stimme hatte etwas kehlig Unsicheres.
Becker wandte sich wieder dem Fenster zu. »Ein Teil von ihr ist zu ihnen übergegangen, ein anderer Teil ist bei uns geblieben«, erwiderte er. »Genau darum haben wir sie ja gebeten.«
»Sie ist zu ihnen übergegangen«, wiederholte Litvak und empörte sich mit dem Anschwellen seiner eigenen Provokation. »So was ist bei Agenten schon öfter vorgekommen. Und genau das ist jetzt passiert. Ich hab’ sie am Flugplatz gesehen, ihr nicht. Sie sieht aus wie ein Gespenst, sag’ ich euch.«
»Wenn sie wie ein Gespenst aussieht, will sie so aussehen«, sagte Becker ungerührt. »Sie ist Schauspielerin. Und sie steht es durch.«
»Aber worin sehen Sie ihre Motivation? Sie ist keine Jüdin. Sie ist überhaupt nichts. Sie gehört zu ihnen. Vergessen Sie sie!« Als er hörte, dass Kurtz sich unter seiner Decke rührte, hob Litvak die Stimme, um auch ihn mit einzubeziehen.
»Wenn Sie immer noch zu uns gehört, warum hat sie dann Rachel auf dem Flughafen eine unbeschriebene Zigarettenschachtel gegeben, können Sie mir das sagen? Wochenlang unter diesem Abschaum, und schreibt uns nicht mal ‘ne Zeile, wann sie wieder rauskommt? Was für eine Agentin ist denn das, die uns gegenüber so loyal ist?«
Becker schien in den fernen Bergen nach einer Antwort Ausschau zu halten. »Vielleicht hat sie nichts zu sagen«, sagte er. »Sie erklärt sich mit Taten. Nicht mit Worten.«
Aus den Untiefen seines kargen Feldbetts bot Kurtz verschlafen einen Trost an. »Deutschland macht dich nervös, Shimon. Reg dich ab! Was spielt es schon für eine Rolle, zu wem sie gehört, solange sie uns den Weg zeigt?«
Doch Kurtz ’ Worte bewirkten genau das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hatte. In seiner selbstquälerischen Stimmung spürte Litvak eine unfaire, gegen ihn gerichtete Allianz, und das brachte ihn noch mehr in Rage.
»Und wenn sie zusammenbricht und ein Geständnis ablegt? Wenn sie ihnen die ganze Geschichte erzählt, von Mykonos bis hierher? Weist sie uns dann immer noch den Weg?«
Offensichtlich war er auf Kollisionskurs aus; nichts passte ihm.
Kurtz richtete sich auf einem Ellbogen auf und schlug einen härteren Ton an. »Was sollen wir denn tun, Shimon? Sag uns die Lösung für das Team. Angenommen, sie ist übergelaufen. Angenommen, sie hat das ganze Unternehmen von vorn bis hinten ausgeplaudert. Willst du, dass ich Misha Gavron anrufe und ihm sag’, dass alles aus ist?«
Becker hatte sich nicht vom Fenster fortbewegt, sich allerdings wieder umgedreht, und er beobachtete Litvak jetzt nachdenklich über den ganzen Raum hinweg. Während er den Blick zwischen den beiden Männern hin und her gehen ließ, warf Litvak die Arme auseinander, eine heftige, wilde Gebärde gegenüber zwei Männern, die sich nicht von der Stelle rührten.
»Irgendwo da draußen steckt er!« rief Litvak. »In einem Hotel. Einer Wohnung. Einem Bett. Muss er sein. Riegelt die Stadt ab. Die Straßen, die Eisenbahn, die Busse. Lassen Sie Alexis einen Ring um die Stadt legen. Jedes Haus durchsuchen, bis wir ihn haben.«
Kurtz versuchte es mit etwas gutmütigem Humor. »Shimon. Freiburg ist nicht die West-Bank.«
Doch Becker, dessen Interesse endlich geweckt war, schien den Gedanken gern weiterverfolgen zu wollen. »Und wenn wir ihn gefunden haben?« fragte er, als ob er sich noch nicht ganz zu Litvaks Plan durchringen könnte. »Was machen wir dann, Shimon?«
»Finden. Umlegen. Operation ausgeführt.«
»Und wer legt Charlie um?« fragte Becker genauso vernünftig. »Wir oder sie?«
Plötzlich ging in Litvaks Kopf mehr vor, als er von sich aus bewältigen konnte. Unter den Spannungen der vergangenen Nacht sowie des bevorstehenden Tages wurde die ganze verknäulte Masse seiner - männlichen wie weiblichen -Frustrationen plötzlich an die Oberfläche geschwemmt. Sein Gesicht verfärbte sich, seine Augen blitzten, als er einen dünnen Arm vorschnellen ließ und anklagend auf Becker zeigte. »Eine Hure ist sie, eine Kommunistin ist sie, und ein Araber-Liebchen ist sie!« schrie er so laut, dass man es noch nebenan hören konnte. »Lassen wir sie doch fallen! Wen kümmert’s?«
Falls Litvak erwartet hatte, dass Becker sich deshalb mit ihm in die Haare geraten würde, so hatte er sich getäuscht, denn das Äußerste, das Becker von sich gab, war ein stummes, gleichsam zustimmendes Nicken, als ob alles, was er bisher über Litvak gedacht hatte, sich jetzt bestätigte. Kurtz hatte die Wolldecke weg geschoben. Er saß in der Unterhose auf dem Bett und rieb sich mit den Fingerspitzen das kurze graue Haar auf dem vorgeneigten Kopf.