»Geh und nimm ein Bad, Shimon«, befahl er ruhig. »Ein Bad, Entspannung, eine Tasse Kaffee. Komm gegen Mittag wieder. Und lass dich vorher nicht hier blicken.« Ein Telefon klingelte. »Geh nicht ran«, fügte er noch hinzu und nahm selbst den Hörer ab, während Litvak ihn in stummem Entsetzen über sich selbst von der Tür her beobachtete. »Er ist beschäftigt«, sagte Kurtz auf deutsch. »Ja, hier spricht Helmuth. Wer spricht dort?«
Er sagte ja und dann nochmals ja; und gut gemacht. Dann legte er auf und lächelte sein altersloses, freudloses Lächeln. Bedachte erst Litvak damit, um ihn zu trösten, dann auch Becker, denn in diesem Augenblick waren ihre Meinungsverschiedenheiten unerheblich. »Charlie ist vor fünf Minuten im Hotel der Minkels eingetroffen«, sagte er. »Rossino ist bei ihr. Sie lassen sich ein schönes Frühstück schmecken, reichlich vor der Zeit, genau wie unser Freund es mag.«
»Und das Armband?« fragte Becker.
Dieses Detail gefiel Kurtz am besten. »Am rechten Handgelenk«, sagte er stolz. »Sie hat eine Botschaft für uns. Sie ist ein Prachtmädchen, Gadi. Ich gratuliere dir!«
Das Hotel stammte aus den sechziger Jahren, einer Zeit also, in der das Gaststättengewerbe noch an große, von Gästen wimmelnde Hotelhallen mit beruhigend plätschernden beleuchteten Springbrunnen und goldenen Uhren unter Glas geglaubt hatte. Eine breite Doppeltreppe führte zu einem Zwischenstock, und von dem Tisch am Geländer, wo sie saßen, hatten Charlie und Rossino sowohl den Haupteingang als auch die Rezeption sehr gut im Auge. Rossino trug den blauen Anzug des angehenden leitenden Angestellten und Charlie ihre südafrikanische Pfadfinderinnen-Uniform und das hölzerne Christkind aus dem Ausbildungslager. Von den Gläsern ihrer Brille - Tayeh hatte darauf bestanden, dass sie echt sein müssten - taten ihr die Augen weh, wenn sie an der Reihe war zu beobachten. Sie hatten Eier mit Speck gegessen, denn sie war sehr hungrig gewesen, und jetzt tranken sie frischen Kaffee, während Rossino die Stuttgarter Zeitung las und sie ab und zu mit irgendeiner witzigen Nachricht beglückte. Sie waren frühmorgens in die Stadt gefahren, und sie hatte sich auf dem Soziussitz fast zu Tode gefroren. Am Bahnhof hatten sie die Maschine abgestellt, Rossino hatte Erkundigungen eingezogen, und dann waren sie mit einem Taxi zum Hotel weitergefahren. Im Laufe der Stunde, die sie nun hier saßen, hatte Charlie beobachtet, wie Polizeieskorten einen katholischen Bischof hergebracht hatten und dann mit einer Delegation von Westafrikanern in Stammestracht noch einmal wiedergekommen waren. Sie hatte eine Busladung Amerikaner ankommen und eine Busladung Japaner abfahren sehen; die Anmeldeformalitäten kannte sie mittlerweile auswendig, kannte sogar den Namen des Hoteldieners, der den Neuankömmlingen die Koffer abnahm, sobald sie durch die Schiebetür traten, sie auf ihre kleinen Rollwägelchen lud und auf Armeslänge entfernt wartete, während die Gäste die Anmeldeformulare ausfüllten.
»Und Seine Heiligkeit, der Papst, hat vor, eine Reise durch sämtliche faschistischen südamerikanischen Staaten zu machen«, ließ Rossino sich hinter seiner Zeitung vernehmen, als sie aufstand. »Vielleicht erledigen sie ihn ja diesmal. Wohin willst du, Imogen?«
»Pinkeln.«
»Was ist denn los? Nervös?«
In der Damentoilette flackerte eine rosa Leuchtstoff röhre über dem Spiegel des Waschtischs, und sanfte Musik übertönte das Surren der Ventilatoren. Rachel trug Lidschatten auf. Zwei andere Frauen wuschen sich die Hände. Eine Tür war geschlossen. Charlie ging vorbei und drückte Rachel die hingekritzelte Meldung in die wartende Hand. Dann wusch auch sie sich und kehrte an den Tisch zurück. »Lass uns machen, dass wir hier rauskommen«, sagte sie, als ob sie es sich auf ihrem Gang zur Toilette doch anders überlegt hätte. »Es ist lächerlich.«
Rossino zündete sich eine dicke holländische Zigarre an und blies ihr den Rauch mit Bedacht ins Gesicht.
Ein offiziell-aussehender Mercedes fuhr vor und spuckte eine Handvoll Herren in dunklen Anzügen mit Namensschildchen am Revers aus. Rossino wollte gerade einen dreckigen Witz über sie machen, als er von einem Pikkolo unterbrochen wurde, der ihn ans Telefon rief. Signor Verdi, der an der Rezeption seinen Namen und fünf Mark hinterlassen hatte, werde in Kabine 3 erwartet. Sie nippte an ihrem Kaffee und spürte das Heiße die ganze Speiseröhre hinunter. Rachel saß mit einem Freund unter einer Palme aus Aluminium und las im Cosmopolitan. Der Freund war für sie neu und sah wie ein Deutscher aus. Er drückte ein in einer Plastikhülle steckendes Schriftstück an sich. Etwa zwanzig Leute saßen da, doch Rachel war die einzige, die sie erkannte. Rossino kam wieder zurück.
»Die Minkels sind vor zwei Minuten auf dem Bahnhof eingetroffen. Haben sich ein Taxi geschnappt - blauer Peugeot. Müssen jeden Augenblick hier eintreffen.«
Er bat um die Rechnung und zahlte gleich, wandte sich dann jedoch wieder seiner Zeitung zu.
Ich werde alles einmal machen, hatte sie sich geschworen, als sie dagelegen und auf den Morgen gewartet hatte; alles wird ein letztes Mal sein. Das wiederholte sie sich jetzt. Wenn ich jetzt hier sitze, brauche ich nie wieder hier zu sitzen. Wenn ich hinuntergehe, brauche ich nie wieder heraufzukommen. Und wenn ich das Hotel verlasse, brauche ich nie wieder herzukommen. »Warum knallen wir den Scheißkerl nicht einfach ab, und damit hat sich’s?« flüsterte Charlie unter einem plötzlichen Aufwallen von Angst und Hass, als sie den Blick wieder dem Eingang zuwandte.
»Weil wir am Leben bleiben wollen, um weitere Scheißkerle abzuknallen«, erklärte Rossino ihr geduldig und blätterte um. »Manchester United hat wieder verloren«, fügte er selbstzufrieden hinzu. »Armes England!«
»Achtung, es tut sich was«, sagte Charlie.
Ein Taxi - ein blauer Peugeot - war jenseits der Glastüren vorgefahren. Eine grauhaarige Frau kletterte heraus. Ihr folgte ein großer, vornehm aussehender Mann mit langsamem, gemessenem Gang. »Sieh dir das kleine Gepäck genau an, ich pass’ auf die großen Stücke auf«, sagte Rossino ruhig zu ihr und zündete sich seine Zigarre wieder an.
Der Fahrer machte den Kofferraum auf; Franz, der Hoteldiener, stand mit seinem Wägelchen hinter ihm. Zuerst kamen zwei zueinander passende Koffer; braunes Nylon, weder alt noch neu, als zusätzliche Verstärkung Riemen um die Mitte. Rote Anhänger. Dann ein alter Lederkoffer, viel größer als die anderen und an der einen Schmalseite mit einem Paar Rädern versehen. Und noch ein Koffer.
Rossino stieß einen leisen italienischen Fluch aus. »Ja, wie lange haben die denn bloß vor zu bleiben?« beschwerte er sich.
Die kleinen Gepäckstücke waren vorn auf dem Beifahrersitz gestapelt. Nachdem er den Kofferraum wieder verschlossen hatte, lud der Fahrer sie aus, doch sie passten nicht alle auf einmal auf Franz’ Wägelchen. Ein schäbiger Beutel aus Lederpatchwork und zwei Schirme, seiner und ihrer. Eine Tragetasche aus Papier mit einer schwarzen Katze darauf. Zwei große Schachteln in festlichem Einwickelpapier, vermutlich verspätete Weihnachtsgeschenke. Dann sah sie sie: die schwarze Aktentasche. Feste Seiten, Stahlrahmen, Lederanhänger mit Namen und Adresse. Gute alte Helg, dachte Charlie; Scheinwerfer an! Minkel zahlte das Taxi. Wie jemand anders, den Charlie einmal gekannt hatte, verwahrte er das Kleingeld in einem Portemonnaie und schüttete es sich auf die Handfläche, ehe er die ungewohnten Münzen weggab. Frau Minkel nahm die Aktenmappe. »Scheiße!« sagte Charlie.
»Abwarten«, sagte Rossino. Mit Paketen beladen, folgte Minkel seiner Frau durch die Schiebetür.
»Jetzt ungefähr sagst du mir, dass du glaubst, ihn zu erkennen«, sagte Rossino ruhig. »Ich sag’ dir, warum gehst du nicht runter und siehst ihn dir genauer an? Du zögerst und zierst dich, du bist eine schüchterne kleine Jungfrau.« Er hielt sie am Ärmel ihres Kleides gepackt. »Nur nichts erzwingen. Wenn’s jetzt nicht klappt - es ergeben sich noch tausend Möglichkeiten. Runzle die Stirn. Rück die Brille zurecht. Geh!«